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Einleitung

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dem ersten nach dem Untergang Assurs 614 v. Chr. in diesem
Areal errichteten Sanktuar scheinen hingegen dort gewisserma-
ßen „archiviert" gewesen zu sein.

Wie ist dieser Befund zu erklären? E. Weidner hatte mit
Blick auf die Steintafeln vermutet, sie seien nach der Zerstörung
Assurs in den Ruinen verschiedener Tempel und Paläste einge-
sammelt und zum Tempel A gebracht worden, um göttlicher
Bestrafung zuvorzukommen, die in den Fluchformeln der
Inschriften angedroht wird, sollten dieselben nicht angemessen
gepflegt werden. 74 Da ein solches Szenario organisierte
Ausgrabungen voraussetzen würde, hält Miglus jedoch eine
andere Möglichkeit für wahrscheinlicher. 75 Er vermutet, daß
man schon in mittelassyrischer Zeit königliche Bauurkunden,
die neu verfaßt oder bei Bauarbeiten in Gründungsdepots gefun-
den wurden, systematisch gesammelt und diese Kollektion im
Laufe der Zeit immer wieder mit neuem Textmaterial ergänzt
habe. Die entsprechenden Inschriften, unter denen sich auch
einige für Bauten in Ninive bestimmte Texte befanden, könnten,
zusammen mit Tontafeln literarischen, religiösen und wissen-
schaftlichen Inhalts, ursprünglich in einer im Südwesthof des
Assur-Tempels gelegenen Bibliothek aufbewahrt worden sein. 76
Nach der Eroberung Assurs 614 v. Chr. wurden vornehmlich die
historischen Texte, vielleicht, weil man mit ihnen, wenn auch
letztlich vergebens, Hoffnungen auf einen Fortbestand des assy-
rischen Staates verband, in den Tempel A transferiert, wo sie das
„letzte Staatsarchiv der Assyrer" (Miglus) bildeten.

Das historische Textmaterial aus dem Tempel A repräsen-
tiert also, vergleicht man es mit dem aus N4, eine andere, in
höherem Maße „offizielle“, da ganz auf königliche
Verlautbamngen fokussierte Form der historischen Erinnerung.
Wer immer Zugang zu den fraglichen Texten hatte, dürfte in der
Lage gewesen sein, sich ein zwar sehr einseitiges, zugleich
jedoch bemerkenswert detailliertes Bild von der Geschichte des
assyrischen Staates zu verschaffen. 77

Königsinschriften fanden sich in Assur auch sonst an ande-
ren Orten als Gründungsdepots, z. B. in dem Palais, das Sanherib
seinem Sohn Assur-ill-muballissu im Osten der Stadt errichtet
hatte. Hier kamen neben zahlreichen Ritual- und
Beschwörungstexten eine Inschrift Adad-närärls I., zwei
Fragmente eines eigentlich für Ninive bestimmten Sanherib-
Tonzylinders sowie ein Dekret desselben Königs zutage. 78 In
welchem Maße Mitglieder der assyrischen Elite in ihren privaten
Residenzen Zugriff auf Königsinschriften hatten, bleibt vorerst
jedoch eine offene Frage.

Wie oben ausgeführt, ist es bedauerlicherweise nach wie vor
nicht möglich, den Fundkontext vieler in Assur zutage gekom-
mener historischer Inschriften wirklich präzise zu bestimmen.
Die hier angeführten Beispiele, so steht zu hoffen, können aber
dabei helfen, ein Spektrum von Möglichkeiten zu erschließen,
wie auch andere historische Texte - einschließlich jener, die im
vorliegenden Band veröffentlicht sind - in Assur rezipiert wur-

Herrscher des ersten imperialen Staates der Weltgeschichte standen, und aus
dem physischen Kontakt mit den Platten Kraft und Selbstbewußtsein ge-
schöpft haben.

74 In: W. Andrae, Das wiedererstandene Assur 2, 313, Anm. 213.

75 In: Fs. Strommenger, 139-41.

76 Zu dieser umfangreichen Bibliothek und ihren Beständen siehe Pedersen,
ALA 2, 12-29 (Nl).

77 Zum Assur-Tempel als Geschichts- und Erinnerungsraum siehe jetzt H. Gal-
ter, in: G. Frame (Hrsg.), Fs. A. K. Grayson, 117-35. Auch Inschriften auf
Monumenten spielen in diesem Zusammenhang natürlich eine gewichtige
Rolle.

78 Siehe ALA 2, 76-81 (N5).

den. Daß der Hauptzweck der wichtigsten historischen
Textgattung, der Königsinschriften, darin bestand, in den
Fundamenten und im Mauerwerk neuerrichteter Gebäude ver-
graben zu werden, damit spätere Herrscher sie bei Rekon-
struktionsarbeiten finden, die Werke ihrer Vorgänger studieren
und sich ein Beispiel an ihnen nehmen könnten, 79 sollte dabei
natürlich nicht vergessen werden.

Ausblick

Der vorliegende Band kann nicht alle Probleme lösen, die die in
ihm veröffentlichten Inschriften aufgeben. Eine Reihe besonders
interessanter Texte, etwa die Tafel VAT 9981 (Nr. 74), in der
von dem vorsintflutlichen König Alulu die Rede ist, oder VAT
14418 (Nr. 76), ein eigentümlicher, die Unterbrechung der Kulte
in Assur und Nippur betreffender Dialog zwischen König Isme-
Dagän I. (?) und dem Gott Assur-Enlil, bleiben aufgrund ihres
bruchstückhaften Erhaltungszustandes vorerst in vielerlei
Hinsicht rätselhaft. Dies gilt auch für VAT 10752 (Nr. 79), ein
seltsames Gebet Adad-närärls III.(?), und den am Schluß dieses
Bandes veröffentlichten Brief VAT 14104 (Nr. 80). Es steht zu
hoffen, daß die Veröffentlichung der genannten Bmchstücke
über kurz oder lang zur Auffindung von Zusatzstücken oder
Duplikaten fühien wird, mit deren Hilfe ein besseres Verständnis
der Texte erzielt werden kann.

Fortschritte dürften auch bei der genaueren Datiemng der
im vorliegenden Band veröffentlichten Königsinschriften
unsicherer Zuweisung möglich sein (Nr. 44-58). Dies gilt
besonders für eine Reihe offenbar fmhneuassyrischer Texte wie
etwa VAT 9752 (Nr. 45) // VAT 9782+ (Nr. 46), VAT 10329+
(Nr. 48) und VAT 14402 (Nr. 56), die interessante neue
Informationen zur politischen Geschichte der „Reconquista-
Periode" des 10. und 9. Jahrhunderts v. Chr. bieten. Detaillierte
Studien zu Inhalt und Stil der Königsinschriften dieser Zeit
sollten auf mittlere Sicht eine präzisere chronologische
Einordnung der fraglichen Texte ermöglichen. 80 Auch genauere
paläographische Untersuchungen dürften sich hierbei als
hilfreich erweisen 81 - wobei freilich zu bedenken ist, daß
Königsinschriften mitunter bewußt archaisierende Schriftformen
aufweisen oder aber spätere Abschriften sein können.

Schließlich wäre es begrüßenswert, wenn die Veröffentli-
chung der m. E. aus der Zeit Assurnasirpals I. stammenden
historischen Chronik VAT 10803+ (Nr. 61) eine neue Bewertung
dieses Königs und des vermeintlich dunklen Zeitalters, in dem er
regierte, nach sich zöge.

79 Zur Bedeutung des Beispielcharakters mesopotamischer Herrscherinschriften
siehe S. M. Maul, in: F. Paschoud et al. (Hrsg.), La biographie antique,
1-32.

80 Es sei in diesem Zusammenhang angemerkt, daß mir bei der Arbeit mit den
Textfragmenten kein elektronisches Korpus aller assyrischer Königsinschrif-
ten zur Verfügung stand. Eine auf ein solches Korpus gestützte systematische
Suche nach bestimmten Schlüsselphrasen könnte durchaus dazu beitragen,
für einige hier veröffentlichte Bruchstücke von mir übersehene Verbindun-
gen mit bekannten Texten nachzuweisen.

81 Bereits vorliegende, freilich durchweg sehr provisorische Untersuchungen
zur assyrischen Paläographie hat N. Heeßel in KAL 1, 4, Anm. 43 zusam-
mengestellt; speziell mit Blick auf die Königsinschriften kann femer auf die
kurzen Bemerkungen von A. K. Grayson, RIMA 1, p. 6 verwiesen werden.
 
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