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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0637
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536

Philosophie und Offenbarungsglaube

Jaspers
Was Sie fragen, scheint mir ebenso einfach für den, der das vollzogen hat und stän-
dig vollzieht, und zugleich wie unverständlich für den, der noch nicht dabei ist. Ich
muß wieder unsere Hörer um Geduld bitten, wenn ich den Versuch mache, das, was
ich im dritten Teil meines Buches ausgeführt habe, wenigstens anzudeuten. Mir selbst
war es in der Jugend, und so ist es - meine ich - bei jedem Menschen, ein Ruck, etwas
48 Plötzliches, das einschlägt, für uns am klarsten und eindringlichsten durch Kants Phi-
losophie, aber ebenso in Indien und im Altertum. Versuche ich: Denken wir, so sind
wir mit jedem Denkakt als denkende Subjekte auf gedachte Objekte gerichtet. Oder
anders gesagt: Unser Ich ist auf Gegenstände gerichtet. Diesen Zustand unseres den-
kenden Bewußtseins nennen wir die Subjekt-Objekt-Spaltung. Ich bin mir meiner be-
wußt, nur wenn ich zugleich auf Gegenstände gerichtet bin. Ich habe einen Gegen-
stand nur, sofern er mir gegenübersteht. Was der Gegenstand an sich ist oder was ich
an mir selbst bin, weiß ich denkend nicht. Ich muß es stets zugleich in die Spaltung hin-
einziehen, in der es mir bewußt wird, was ich bin und was ist, wie die Dinge erschei-
nen und wie ich selbst mir erscheine. Aber ich möchte die Subjekt-Objekt-Spaltung
überwinden, in der ich wie in einem Gefängnis eingeschlossen bin. Diese Überwin-
dung geschieht in mystischen Erlebnissen, in denen ich und der Gegenstand zugleich
verschwinden, von denen daher - obgleich es in Bildern und Gedanken einer unge-
mein reichen Literatur geschehen ist - doch eigentlich nicht zu reden ist. Die andere
49 philosophische Über| Windung der Subjekt-Objekt-Spaltung geschieht durch das Den-
ken, das diesen Grundzustand unseres Wissens erfaßt, denn das Gefängnis, das ich als
solches durchschaue, ist schon kein Gefängnis mehr. Wie aber durchschaue ich es?
Durch die Grundoperation des philosophischen Gedankens, den ich eben beschrie-
ben habe und auf mannigfache Weise beschreiben kann. Es sind sehr einfache Denk-
vollzüge, die durch höchst verwickelte Operationen mit Hilfe Kants zu befestigen sind.
Die Folge dieser Grundoperation, wenn sie einmal gelungen ist und dann wie durch
einen Blitz einschlägt, die Folge ist, daß unser ganzes Seinsbewußtsein sich verwan-
delt. Es wird zum Bewußtsein der Erscheinungshaftigkeit des Daseins und der Welt.
Was für uns ist, steht anschaulich in Raum und Zeit, in den Kategorien des Denkens,
der Kausalität, der Substanz, der Realität usw. vor uns. Daß ich dann noch von einem
»An sich« rede, ist überaus mißverständlich, denn dieses »An sich« ist nichts, was so-
zusagen als eine andere zweite Welt da wäre. Es ist gar nicht als erkennbares oder er-
forschbares Sein da, es ist nicht das Zugrundeliegende. Es ist für unsere Einsicht, wie
50 Kant sagt, Grenzbegriff, | nicht Begriff von etwas.677 Es gibt nicht zwei Welten, aber
das, was in diesem Grenzbegriff berührt wird, ist uns gegenwärtig als unsere Freiheit.
Freiheit gibt es nicht, wenn ich wissenschaftlich erkenne. Da gibt es psychologisch,
was man Willkür nennt, da gibt es statistisch, daß einzelne Akte und Vorgänge - sei
es in der Natur, sei es im Menschen - einzeln zufällig in großen Zahlen eine gewisse
 
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