Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0018
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Einleitung des Herausgebers

XVII

kritische »Wissenschaft von den allgemeingültigen Wertbestimmungen«54 im theore-
tischen, ethischen und ästhetischen Bereich erscheinen lassen sollte.55
Allerdings herrschte keineswegs die Vorstellung, die Sinnsuche des Einzelnen
durch eine Bereitstellung normativer Deutungsschemata zum praktischen Gebrauch
zu bedienen. Vielmehr machte es sich die Südwestdeutsche Schule zur Aufgabe, eine
Weltanschauung »in der Art zu geben, die uns die Mannigfaltigkeit unseres sinnvol-
len Lebens einheitlich verstehen lehrt«.56 Hierfür aber war Voraussetzung, dass man
Werte und deren Charakteristika bestimmen und systematisieren konnte. Als wesen-
haften Grundzug des Wertes sahen Windelband und Rickert die Geltung an - eine Be-
stimmung, die eng mit dem vom Neukantianismus zum epistemologischen Hauptpro-
blem der Philosophie erhobenen Problem der Objektivität korrespondiert. Deshalb
kommen für sie lediglich die Werte in Betracht, mit denen ein Anspruch auf objektive
Geltung verbunden werden kann.
Doch obwohl nach Rickert selbst der »kalte Verstand« bei jedem Schritt der Erkennt-
nis »seinem innersten Wesen nach ein Anerkennen von Werthen«57 ist, werden die Werte
im Neukantianismus keineswegs als empirisch zugänglich angesehen - sie sind »da-
seinsfrei« und bilden in der Gedankenwelt der Wertphilosophie vielmehr ein eigenes
intelligibles Reich. Auf diese Weise bleibt die absolute Geltung der Werte von der Aner-
kennung einzelner Subjekte, von der Wirklichkeit überhaupt, unabhängig. Allerdings
bleibt sie so auch jeder Erkenntnis entzogen. Alles, was wir wissen können, ist, dass es
ein Sollen gibt, das auf Werte verweist. Um dieses Sollen zu verstehen und der Aufgabe
gerecht zu werden, die Mannigfaltigkeit des sinnvollen Lebens und damit die diesem
zugrunde liegenden Werte zu verstehen, sind wir auf die Kultur verwiesen, in der Rickert
die »Gesammtheit der allgemein gewertheten Objekte« erblickt. In den Kulturgütern, so
der Gedanke, schlagen sich die Werte nieder.58 Folglich bilden die geschichtlichen Kultur-
objekte, nicht das subjektive Seelenleben das Material für ein System der Werte. Bewiesen
bzw. rational begründet werden können diese allerdings einzig auf dem Gebiet der theo-
retischen Werte. Die atheoretischen Kulturwerte wie die ethischen, ästhetischen und
religiösen sind lediglich zu verstehen, aber nicht zu beweisen.59
Durch die Verknüpfung erkenntnis-, wert- und kulturtheoretischer Fragen konnte
der Neukantianismus der Südwestdeutschen Schule in verschiedenen Diskursen mit-
mischen: im philosophischen und naturwissenschaftlichen qua Erkenntnistheorie,

54 W. Windelband: »Was ist Philosophie?«, in: ders.: Präludien, Bd. 1,1-54, 26,29.
55 H.-L. Ollig: Der Neukantianismus, 55.
56 Vgl. H. Rickert: Wilhelm Windelband, Tübingen 1915, 20.
57 Ebd., 87-89.
58 H. Rickert: »Vom System der Werte«, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Kultur,
Bd. 4 (1913) 295-327,296; ders.: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Ein Vortrag, Freiburg i.Br.
u.a. 1899, 26-27.
59 Vgl. A. Messer: Deutsche Wertphilosophie der Gegenwart, Leipzig 1926, 32.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften