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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0060
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Einleitung des Herausgebers

LIX

Philosophie, unter deren Einfluss Jaspers stehe, neige aber dazu, alles Feste »zugunsten
des allebendigen Lebensstroms« zu verneinen und erweise sich damit als »Produkt ei-
ner >Prophetie<«, die auf der Liebe zum lebendigen Leben, nicht auf theoretischen An-
nahmen beruhe. Weil aber mit Anschauung allein beim Denken nichts anzufangen
sei, müsse man doch bei den Begriffen seine Zuflucht nehmen, und da man sich vom
Leben nicht entfernen wolle, halte man sich darum an die Wissenschaft vom Leben,
die Biologie. Auf diese Weise bekomme das Denken einen biologistischen Charakter,
den Rickert auch Jaspers unterstellt, und der sich ihm zufolge im Begriff des »Gehäu-
ses« manifestiert.307 Die Systeme, d.h. Gehäuse würden auf Grund ihrer biologischen
Funktion zu verstehen versucht. Diese Interpretation - vielleicht nicht zufällig die
schwächste in Rickerts ansonsten scharfsinniger Polemik - nutzt Rickert dazu, Jaspers
einen Psychologismus und die Absicht einer Ablösung der Philosophie durch die Wis-
senschaft zu unterstellen. Vor diesem Hintergrund mutet es zynisch an, wenn Rickert
am Ende seines Aufsatzes beteuert: »Diese Bemerkungen richten sich selbstverständ-
lich nicht gegen das Buch von Jaspers«, da er gewiss auch ein theoretischer Mensch
sei.308 Allerdings sei auch ihm die »Lebensangst vor dem System« in seine wissenschaft-
lichen Prinzipien hineingeraten. Die Kritik wird noch gesteigert durch Rickerts deut-
liche Kampfansage an Jaspers’ vermeintliches Ansinnen, die Philosophie als Weltan-
schauungstheorie durch eine Psychologie der Weltanschauungen zu ersetzen: »Dies
Programm ist zu bekämpfen, weil ihm Wertvoraussetzungen zugrunde liegen, die spe-
zifisch unwissenschaftlich sind.«309 Entsprechend fällt auch Rickerts höhnisches Re-
sümee aus. Er hält die Psychologie der Weltanschauungen für »höchst anregend und
bedeutungsvoll«310 und begrüßt die »philosophische Tendenz«, über die psychologi-
schen Grenzen hinauszugreifen.311 Sein Wert für die Philosophie liege allerdings ge-
rade darin, der »>konsequente< Ausdruck seiner inkonsequenten Weltanschauung« zu
sein312 - eine Bemerkung, mit der Rickert das Buch als Anschauungsmaterial für einen
verfehlten lebensphilosophischen Ansatz desavouiert. Das ursprüngliche Anliegen ei-
ner von jedem Prophetentum freien, rein betrachtenden Wissenschaft von den Welt-
anschauungen hält Rickert für nicht durchgeführt und auf dem von Jaspers einge-
schlagenen Wege auch für nicht durchführbar,313 weil sie einer umfassenden Theorie

307 Ebd., 27-28. Rickert hatte die Lebensphilosophie bereits in seinem Aufsatz »Lebenswerte und Kul-
turwerte« aus dem Jahre 1911 als Biologismus verstanden und unter anderem Friedrich Nietzsche
als Biologisten bezeichnet (in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, Bd. 2
(1911/1912) 131-166,136).
308 H. Rickert: »Psychologie der Weltanschauungen und Philosophie der Werte«, 34.
309 Ebd.
310 Ebd.
311 Ebd., 41.
312 Ebd., 34.
313 Ebd., 39.
 
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