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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0070
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Einleitung des Herausgebers

LXIX

Aufschlussreich erscheint in diesem Zusammenhang bereits die Einleitung der Philo-
sophie. Sie beginnt mit dem Abschnitt »Ausgang des Philosophierens von unserer Si-
tuation«; und diese Situation wird bei Jaspers 12 Jahre nach Erscheinen der Psycholo-
gie der Weltanschauungen nicht etwa als historisch gewachsene gesellschaftliche
Konstellation verstanden, sondern als je eigener geschichtlicher Horizont der Selbst-
reflexion: »Wenn ich Fragen stelle wie diese: was ist das Sein? - warum ist etwas, wa-
rum ist nicht nichts? - wer bin ich - was will ich eigentlich? - so bin ich mit solchen
Fragen nie am Anfang. Ich stelle sie aus einer Situation heraus, in der ich mich, her-
kommend aus einer Vergangenheit, finde«.353
Liest man diesen einleitenden Absatz als mögliche Reaktion auf Heideggers Kritik,
dann spiegelt sich bei Jaspers in der Einleitung in die Philosophie die von Heidegger an-
gemahnte Problematik des Historischen im Situationsbegriff wider. Nimmt man Hei-
deggers Aussage hinzu, das Selbst sei, was es sei, »in seinen selbstweltlichen, mitweltli-
chen und umweltlichen Bezügen«, so lassen sich dabei zwei Stränge erkennen: erstens
die »Situationserhellung«, wie sie in der Geistigen Situation der Zeit als kulturkritische
Perspektive354 im Sinne einer Erhellung der »mitweltlichen« und »umweltlichen« Be-
züge angelegt ist, und zweitens die »selbstweltliche« Perspektive als »Geschichtlich-
keit«, die einen der hermeneutischen Horizonte der »Existenzerhellung« darstellt.
Drei weitere Entwicklungslinien sind auffällig, wenn man die oben genannten, aus
den Grunderfahrungen hervortretenden Fragen vor dem Hintergrund der Heidegger'sehen
»Anmerkungen« liest. Erstens dass mit Blick auf Heideggers Forderung, die Grunder-
fahrung des »Mich-selbst-habens« müsse »in der vollen Konkretion des >ich< seinen
Ursprung nehmen«, Jaspers in seiner Philosophie erstmals Grunderfahrungen aus der
Ich-Perspektive schildert, wodurch die konkrete Erfahrung als persönliche in ihrer
Unabwendbarkeit und Unmittelbarkeit spürbar gemacht werden soll - eine Praxis, de-
rer sich im Übrigen auch Heidegger in seinen »Anmerkungen« bediente. Da sich Exis-
tenz, wie Heidegger sagt, nicht der Objekterkenntnis erschließt, sondern ein prärefle-
xives, aber dennoch selbstbezügliches Erfahren darstellt, versucht Jaspers ganz im
Sinne der Verstehenden Psychologie mit seiner Art der Darstellung an die Erfahrung
des Lesers zu appellieren, um »Evidenzerlebnisse« zu ermöglichen, die nunmehr die
Erhellung des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens mit einschließen. Die bereits für die Ver-
stehende Psychologie konstitutive Angewiesenheit auf Evidenzerlebnisse des Rezipi-
enten erhält hier also eine existentielle Note. Was bei Heidegger die Form einer küh-
len, streng durchdeklinierten, fundamentalontologisch gerahmten »existenzialen
Analytik des Daseins« annimmt, die das »Wie« des Seins in seiner Alltäglichkeit in
Form existenzialer Strukturen im Horizont der Zeitlichkeit aufzeigt, nimmt in Jaspers’
»Existenzerhellung« die an ein »erlebendes Denken« appellierende anschauliche Form

353 K. Jaspers: Philosophie1,1.
354 Ders.: Die geistige Situation der Zeit, 7, 27-29.
 
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