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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0120
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Psychologie der Weltanschauungen

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unechtes Larvenleben zu töten; es kann jedenfalls kein Leben töten und kein Leben
schaffen. Alle Möglichkeiten des Lebendigen bleiben frei.
Da wir als Menschen auf alles Seelische, Geistige, Verstehbare, so wie wir es sehen,
auch mit Wertakzenten unsererseits reagieren, so ist es unvermeidlich, daß wir z.B.
das Erstarrte, Verknöcherte, sofern wir es bloß betrachten wollen, mit den Lebensin-
stinkten in uns verneinen. Trotzdem wir uns bemühen, jedes Werturteil zu vermei-
den, werden wir es nicht hindern können, daß Werturteile unausgesprochen immer
mitschwingen. Diese wollen wir aber suspendieren und uns nur der Betrachtung hin-
geben.
Was eine Psychologie der Weltanschauungen sein könne, wurde im Gegensatz zur propheti-
schen Philosophie charakterisiert. Nun ist zu zeigen, wie man von psychologischen Interessen
her zu einer solchen Weltanschauungspsychologie kommen kann.
Wer die Erfahrung macht, daß gegenwärtig Psychologie als ein Ganzes nicht existiert, aber
die Psychologie nicht als bloße Beschäftigung betreibt (sondern weil er sehen möchte, was der
Mensch sei), der gewinnt die Überzeugung, daß gedeihliche Arbeit (die letzthin kasuistisch sein
wird), nicht | möglich ist ohne einen klaren Horizont, der ihm in Umrissen ein Ganzes zeigt, 6
das nun durch jede neue kasuistische Untersuchung korrigiert und in Frage gestellt werden mag,
selbst aber auch zur kasuistischen Untersuchung veranlaßt. In dieser Überzeugung bemühe ich
mich seit Jahren, ein solches Ganzes mir zu entwerfen;28 die Aufgabe mag unmöglich erfüllbar
sein, andere mögen gleichzeitig dasselbe zu leisten suchen, jeder mag nur Fragmente fertig brin-
gen; wer überhaupt Psychologie der Psychologie wegen treibt, wird kaum anders können, als
im weitesten Ausmaß erst einmal zu versuchen, festzustellen, was wir bis jetzt sehen, was uns
anschaulich ist, was begriffliche Form gewonnen hat.
Aus diesen Arbeiten für ein Gebäude der psychologischen Einsichten als eines Ganzen wage
ich ein erstes Stück in dieser Darstellung vorzulegen. Es hat als Teil seinen Sinn, aber wie ich
hoffe, doch auch einen selbständigen. Auf zwei Wegen ist es möglich, Stützen zum Erfassen des
psychologischen Ganzen zu finden, indem man sich zu den äußersten Grenzen hin bewegt: Er-
stens in der Methodologie (oder allgemeinen Psychologie) zu den Prinzipien, Kategorien und Me-
thoden unserer psychologischen Erkenntnis überhaupt, zweitens in der Psychologie der Welt-
anschauungen zu den äußersten Horizonten, den letzten Kräften, mit einem Wort zu den
Grenzen, innerhalb derer für unseren bisherigen Blick sich das seelische Leben abspielt. Die all-
gemeine Psychologie würde als System der Begriffe und Methoden das einzig mögliche System
der Psychologie sein, während alle konkrete Erkenntnis immer monographischen Charakter
mit Aufstellung vieler Systematiken hätte und nie als ein fertiges System auch nur wünschbar
wäre. Die Weltanschauungspsychologie ist ein Abschreiten der Grenzen unseres Seelenlebens, so-
weit es unserem Verstehen zugänglich ist. Auf alles Seelische muß von den Grenzen her ein Ein-
fluß geschehen, und alles wird vermutlich irgendwie für die Weltanschauung eines Menschen
bestimmend sein. Wenn eine Psychologie der Weltanschauungen abgesondert behandelt wird,
soll aber nicht die gesamte Psychologie dargestellt werden, vielmehr bewegen wir uns, künst-
lich abstrahierend, nur an den Grenzen. Statt uns im Medium des verwickelten, als ein unend-
licher Knäuel durcheinander laufender Fäden verstehbaren, konkreten Seelenlebens zu bewe-
gen, suchen wir gleichsam nach den Anknüpfungspunkten, an die die Fäden und das ganze
Knäuel gebunden sind; und wir bemühen uns, an diesen Punkten gleichsam zu zerren und den
 
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