Psychologie der Weltanschauungen
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Fälschungen, und nur für eine Psychologie der anderen, fremden, feindlichen Men-
schen. In der lebendigen Erfahrung dagegen lassen wir unser eigenes Ich sich erwei-
tern, zerfließen und dann wieder in sich zusammenziehen. Es ist ein pulsierendes Le-
ben von Ausstrecken und Einziehen, von Selbsthingabe und Selbsterhaltung, von Liebe
und Einsamkeit, von Ineinsfließen und Kampf, von Bestimmtheit, | Widerspruch und 8
Einschmelzung, von Einstürzen und Neubau. Diese Erfahrungen bilden die Ecksteine
für jeden Versuch einer Weltanschauungspsychologie.
2. Diese Quelle eigener unmittelbarer Erfahrung erweitert sich, wenn wir suchend
die Welt durchwandern, noch zunächst gar nicht in der Meinung, Material zu einer
Weltanschauungspsychologie zu sammeln. Wir häufen nicht systematisch nach Re-
geln Einzelmaterial wie als Fachwissenschaftler, sondern wir gewinnen Anschauung,
indem wir uns überall, in jede Situation, in jede Wendung der faktischen Existenz ver-
senken, indem wir in jedem Element des Daseins, z.B. als Erkennende in allen Wissen-
schaften nacheinander, leben. Hier sammelt jeder Mensch, und jeder Mensch irgend-
wie eigene, neue Erfahrungen, die man nicht wie eine bestimmte Tatsache, nicht als
Casus einfach berichten kann. Diese Erfahrungen, bei jedermann vorhanden, aber
überall lückenhaft, fast immer unbemerkt oder undeutlich, sind es, an die jeder, der
über Weltanschauungspsychologie spricht, appellieren kann').31 Es wäre überflüssig
und umständlich, solche Erfahrungen in den Formen konkreter Einzelbeschreibung
zu geben, und es wäre unmöglich durchzuführen. Das persönliche Erleben der mensch-
lichen Seele steht nicht so zur Verfügung wie das Objekt des Anatomen oder die Tiere
des Physiologen. Der einzelne Psychologe erfährt Glücksfälle spezifischer Erfahrun-
gen, die er als solche verwenden, aber auch nicht mitteilen kann. Das Material, das als
solches greifbar, benutzbar, demonstrierbar ist, ist fast nur das historische Material.
Die Toten dürfen wir als Casus benutzen; das erlauben uns die Lebendigen nur in harm-
losen, für die Weltanschauungspsychologie nebensächlichen Dingen.
Die beiden Arten persönlicher Erfahrung sind getrennt auch insofern, als beim ein-
zelnen Menschen die eine Art oft auffallend überwiegt. Es gibt Menschen mit breite-
ster Anschauung der Sphären und Formen menschlichen Erlebens und Meinens, die
doch gar keine persönliche, ernsthafte Bewegung ihrer Weltanschauung erlebt zu ha-
ben brauchen. Und andererseits Menschen, die ernsthaft und schmerzlich in ihren
substantiellen Lebenserfahrungen nicht bloß zusehen, und die dabei gar keine Breite
der Anschauung aller Möglichkeiten zu entwickeln brauchen. Das Mitleben mit ande-
ren Menschen führt zu einem Assimilieren des ursprünglich Fremden. Wir lassen uns
bilden durch diese Erfahrungen im Anderen. Wir besitzen das Gewonnene zwar nicht
als solch tiefes Element unseres Wesens, wie das ganz original | durch eigene Gefahr 9
und Verantwortung Erfahrene, aber wir sehen es anschaulich und evident. Für die Ma-
»Man schreibt oft Dinge, die man nur dadurch beweisen kann, daß man die Leser dazu veranlaßt,
über sich selbst nachzudenken« (Pascal).
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Fälschungen, und nur für eine Psychologie der anderen, fremden, feindlichen Men-
schen. In der lebendigen Erfahrung dagegen lassen wir unser eigenes Ich sich erwei-
tern, zerfließen und dann wieder in sich zusammenziehen. Es ist ein pulsierendes Le-
ben von Ausstrecken und Einziehen, von Selbsthingabe und Selbsterhaltung, von Liebe
und Einsamkeit, von Ineinsfließen und Kampf, von Bestimmtheit, | Widerspruch und 8
Einschmelzung, von Einstürzen und Neubau. Diese Erfahrungen bilden die Ecksteine
für jeden Versuch einer Weltanschauungspsychologie.
2. Diese Quelle eigener unmittelbarer Erfahrung erweitert sich, wenn wir suchend
die Welt durchwandern, noch zunächst gar nicht in der Meinung, Material zu einer
Weltanschauungspsychologie zu sammeln. Wir häufen nicht systematisch nach Re-
geln Einzelmaterial wie als Fachwissenschaftler, sondern wir gewinnen Anschauung,
indem wir uns überall, in jede Situation, in jede Wendung der faktischen Existenz ver-
senken, indem wir in jedem Element des Daseins, z.B. als Erkennende in allen Wissen-
schaften nacheinander, leben. Hier sammelt jeder Mensch, und jeder Mensch irgend-
wie eigene, neue Erfahrungen, die man nicht wie eine bestimmte Tatsache, nicht als
Casus einfach berichten kann. Diese Erfahrungen, bei jedermann vorhanden, aber
überall lückenhaft, fast immer unbemerkt oder undeutlich, sind es, an die jeder, der
über Weltanschauungspsychologie spricht, appellieren kann').31 Es wäre überflüssig
und umständlich, solche Erfahrungen in den Formen konkreter Einzelbeschreibung
zu geben, und es wäre unmöglich durchzuführen. Das persönliche Erleben der mensch-
lichen Seele steht nicht so zur Verfügung wie das Objekt des Anatomen oder die Tiere
des Physiologen. Der einzelne Psychologe erfährt Glücksfälle spezifischer Erfahrun-
gen, die er als solche verwenden, aber auch nicht mitteilen kann. Das Material, das als
solches greifbar, benutzbar, demonstrierbar ist, ist fast nur das historische Material.
Die Toten dürfen wir als Casus benutzen; das erlauben uns die Lebendigen nur in harm-
losen, für die Weltanschauungspsychologie nebensächlichen Dingen.
Die beiden Arten persönlicher Erfahrung sind getrennt auch insofern, als beim ein-
zelnen Menschen die eine Art oft auffallend überwiegt. Es gibt Menschen mit breite-
ster Anschauung der Sphären und Formen menschlichen Erlebens und Meinens, die
doch gar keine persönliche, ernsthafte Bewegung ihrer Weltanschauung erlebt zu ha-
ben brauchen. Und andererseits Menschen, die ernsthaft und schmerzlich in ihren
substantiellen Lebenserfahrungen nicht bloß zusehen, und die dabei gar keine Breite
der Anschauung aller Möglichkeiten zu entwickeln brauchen. Das Mitleben mit ande-
ren Menschen führt zu einem Assimilieren des ursprünglich Fremden. Wir lassen uns
bilden durch diese Erfahrungen im Anderen. Wir besitzen das Gewonnene zwar nicht
als solch tiefes Element unseres Wesens, wie das ganz original | durch eigene Gefahr 9
und Verantwortung Erfahrene, aber wir sehen es anschaulich und evident. Für die Ma-
»Man schreibt oft Dinge, die man nur dadurch beweisen kann, daß man die Leser dazu veranlaßt,
über sich selbst nachzudenken« (Pascal).