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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0127
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Psychologie der Weltanschauungen

und sein Einfluß erst in den letzten Jahren größer zu werden beginnt). Als ein breiter
Strom »geistreicher« Arbeit fließt sie durch das 19. Jahrhundert in Deutschland. Ohne
feste Ziele, ohne eigentlich substantielle Kräfte, stark psychologisierend, wird Betrach-
tung und Wertung meistens vereint mit Metaphysik und allem möglichen anderen.
Die Persönlichkeiten sind untereinander wesensfremd, so sehr sie in diesem Medium
einig sind. Ihnen wird es verdankt, daß die geistige Beweglichkeit erhalten bleibt, sie
reizen, lassen Problemsucht fühlen, machen unsicher und stellen indirekt alles gei-
stige Leben auf die Probe. Mit ihnen läßt der Mensch gleichsam eine Säure über sich
14 ergießen, | die ihn entweder geistreich macht und in die Auflösung mit hineinzieht
oder ihn zum Bewußtsein, zur Kräftigung, zur Bejahung einer, wenn auch noch so ge-
ringen »Existenz« bringt.
3. Max Webers religionssoziologische und politische Arbeiten enthalten eine Art
weltanschauungspsychologischer Analyse, die den früheren gegenüber neu ist, durch
die vorher anscheinend unmögliche Verbindung von konkretester historischer For-
schung mit systematischem Denken. Die systematisch objektivierende Kraft, die sich
hier letzthin in Fragmenten ausspricht und nicht im System erstarrt, ist verbunden
mit einer lebendigen Vehemenz, wie sie uns sonst etwa aus Kierkegaard und Nietz-
sche anpackt. Die Trennung von weltanschaulicher Wertung und wissenschaftlicher
Betrachtung, für die er nach früheren Formulierungen doch erst das Pathos brachte,
möchte auch in dem vorliegenden Versuch erstrebt werden.37
Unser Versuch soll ein systematischer, kein kasuistischer sein. Er ist eine Konstruktion
von Typen, die manchmal durch Beispiele veranschaulicht, aber nicht bewiesen wer-
den. Sie sind als innere Anschaulichkeiten evident. Von allem Material, das wir heran-
ziehen, gilt: wir suchen hier nicht das Häufige, nicht das Durchschnittliche darum,
weil es häufig und durchschnittlich ist. Wir suchen die spezifischen Gestalten, mögen
sie auch ganz selten sein. Unser Feld ist nicht etwa das, was wir sehen, wenn wir bei-
spielsweise 100 Menschen aus unserer Umgebung untersuchten, sondern das Mate-
rial, das entsteht, wenn wir sehen, was wir in historischer und innerer lebendiger und
gegenwärtiger Erfahrung an Eigentümlichem wahrnehmen, selbst wenn es einmalig
ist, wenn es nur typisch zu sehen und zu konstruieren ist. Der Einwand des gewöhnli-
chen sensualistischen Empirikers, was da geschildert werde, bemerke er nicht in sich
selbst, bemerke er auch nicht als tatsächlich in der Geschichte; das alles seien Kon-
struktionen, d.h. Phantasien; - solcher Einwand darf uns darum nicht kümmern, weil
er etwas voraussetzt, das wir nicht wollen. Für alles hier Vorgetragene gibt es keinen
»Beweis«, wie für Thesen oder tatsächliche Behauptungen, sondern die Evidenz der
Anschauung. Diese Anschauung ist überall nicht so absolut allgemein und selbstver-
ständlich wie die Sinneswahrnehmung. Richtigkeit heißt in der gegenwärtigen Dar-
stellung: Anschaulichkeit und Klarheit. Es wird nichts bewiesen. Falsch ist etwas da-
durch, daß es unklar und unanschaulich bleibt oder schon im Keime war. Die Frage
 
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