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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0132
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Psychologie der Weltanschauungen

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gegliederten Kosmos, so sehr sie uns leitet, ist nicht vollendbar. Jede Vollendung muß
Verdacht erwecken. Sie wird Konstruktion im schlechten Sinne, d.h. Vergewaltigung
und Aufbau nach wenigen feststehenden Prinzipien sein. Starrheit tritt an Stelle von
Beweglichkeit. Und für den forschenden Betrachter ist gerade das Lebensfrage, immer
systematisch zu sein und jede Systematik wieder ins Fließen zu bringen; nicht etwa
um die Systeme sich herumzudrücken, indem man sie ignoriert, sondern sie immer
von neuem zu überwinden, indem man sie assimilierend in Bewegung und Fluß bringt.
4. Bei jeder Darstellung wird nun wieder unvermeidlich eine Grundteilung nötig,
wenn auch noch so viele andere Gesichtspunkte im einzelnen wirksam werden. Es er-
scheint zweckmäßig, wenn man sich Freiheit vom System bewahren will, diese Grund-
einteilung immer | nur als eine mögliche anzusehen; zweitens, sie möglichst wenig fas- 20
zinierend, möglichst abstrakt zu wählen; drittens, sie möglichst nicht vorher zu
errechnen, sondern aus der Beschäftigung mit der Sache sich entwickeln und immer-
fort modifizieren zu lassen.
In der gegenwärtigen Darstellung wünschte ich den Eindruck zu erwecken, daß al-
les Systematische in Fluß bleibt, daß da nichts absolut endgültig ist, wenn auch zu ge-
genwärtiger Bestimmung der Begriffe gerade diese systematischen Ordnungen zum gro-
ßen Teile unentbehrlich sind. Die gegenwärtigen Ordnungen würden bei weiterem
Flusse, so denke ich, so wenig wie frühere, absolut zerstört, sondern modifiziert, an an-
dere Stellen verschoben werden. Sofern in ihnen ordnende und bestimmende Kraft liegt,
bleiben sie erhalten, wie sie zu allermeist auch uralt sind. Aber klar muß man sich dar-
über bleiben, daß die hier dargestellten Hauptformen der weltanschaulichen Möglich-
keiten, zwischen denen die übrigen als Kombinationen, Übergänge aufgefaßt werden,
nicht einmal unter allen Umständen Hauptformen zu sein brauchen, sondern vielleicht
unter anderen Gesichtspunkten ihrerseits als Kombinationen erscheinen würden.
Es ist jetzt die Frage, welche systematischen Gesichtspunkte in einer Psychologie der
Weltanschauungen möglich sind. Der Beginn jeder Ordnung ist Unterscheidung und
Trennung. Beim Nachdenken über Weltanschauungen trennt man nebeneinanderste-
hende Gebiete (»Reiche«, »Sphären«, »Regionen«), oder Entwicklungsstadien (»Stu-
fen«) oder hierarchisch angeordnete Möglichkeiten, die zwischen der Bedeutung von
Entwicklungs-und Wertordnung schwanken (»Schichten«, »Ebenen«, »Niveaus«, »Di-
mensionen«), in denen etwa der Mensch sich befindet. Man wird bei allen diesen Wer-
ten deren räumliche Bildhaftigkeit und darum immer als Rest bleibende unvermeidli-
che Inadäquatheit nicht vergessen.
Doch es ist die Frage, was denn so in Sphären, Stufen, Schichten usw. geordnet wird.
Die allgemeinste Formel wäre, daß die Mannigfaltigkeit der Beziehungen von Subjekt
und Objekt darin Ordnungen finde. Denn Subjekt und Objekt sind ja keine feststehen-
den endgültigen Punkte, sie sind beide unendlich, unergründlich. »Der Seele Grenzen
kannst du nicht auskennen, so tiefen Grund hat sie«, sagt schon Heraklit;38 und daß
 
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