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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0143
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Psychologie der Weltanschauungen

33 nicht zu leugnen: Man verwechselt | leicht Anschaulichkeit und evidente Wertung,
deren Evidenz doch etwas ganz anderes als evidente Anschaulichkeit ist. Vor allen Din-
gen aber besteht zwischen Substantialität und Wertung ein Zusammenhang, insofern
man unwillkürlich das Substantiellere auch höher wertet. Zwischen allem Verstehen,
das uns Anschauliches vor Augen stellt, und dem Werten besteht eine unlösliche Ver-
knüpfung, weil wir immer verstehend auch irgendwann mit Wertungen reagieren.
Diese können manchmal durchaus entgegengesetzt sein, so daß dieselbe verstehbare
Anschaulichkeit vom einen negativ, vom anderen positiv gewertet wird. Aber bei der
Substantialität wird wohl, sofern anerkannt wird, daß es sich um diese handelt, zu-
gleich immer auch eine positive Wertung erfolgen. Es ist unvermeidlich, daß durch
Klarheit, die in verstehender Psychologie entsteht, zugleich auch Wirkungen in der
Seele des Verstehenden durch Einfluß auf seine Wertungen möglich werden: Man rea-
giert mit Wertakzenten, die die psychologische Darstellung als solche gar nicht aus-
spricht; was man als psychologisch vorhanden sieht und bei sich erfährt, bekommt
eine stärkere Entwicklung, wenn man es bewußt bejaht, oder umgekehrt eine gerin-
gere, wenn man es bewußt verneint; das verstehende Mitleben bei einer Darstellung,
wenn es zu positiven Wertakzenten Anlaß gibt, verführt zum Scheinerleben in glei-
cher Richtung. So kann psychologische Darstellung, ohne zu wollen, Wirkungen ha-
ben, die denen prophetischer Lehrer analog sind. Die Psychologie hat indirekt eine Be-
deutung für Stellungnahme und Selbsterziehung: als Mittel, nicht als Kraft; als Spiegel,
nicht als Vorbild oder Leitung. - Wenn nun auch alles dieses in Betracht gezogen wird,
und man das werthafte Reagieren nicht mit wertender Darstellung verwechselt, bleibt
doch bei dem Begriff substantieller im Gegensatz zu abgeleiteten Gestalten zum min-
desten die Gefahr, daß der Psychologe die Psychologie benutzt, eigene Wertungen zu
fixieren und zu propagieren. Wenn der Psychologe in seiner psychologischen Arbeit
auch das äußerste Bemühen hat, universal betrachtend zu sein, seine eigenen weltan-
schaulichen Instinkte und seine aus seinen Existenzbedingungen und aus seiner Gei-
stesart entstehenden Wertungen auszuschalten, um von jenem idealen archimedi-
schem Punkte den Menschen überhaupt zu sehen, so kann er doch nur sich bemühen,
und wenn er auch noch so viele weltanschauliche Instinkte, die ihm auftauchten, er-
kannte und objektivierte, er weiß doch schon aus psychologischer Erfahrung, daß ir-
gendwo unbemerkt weitere ihren Einfluß üben, die er noch nicht erkannt hat. Die Psy-
chologie ist ein unendlicher Prozeß der Objektivierung, der nicht den Anspruch
34 erheben darf, vollendet zu | sein. Aber es gibt nun doch Mittel der Korrektur und es
gibt Zeichen, daß der Weg, auch bei Anwendung des Substanzbegriffs, zu wertungs-
freiem, bloßem Sehen führt.
Zunächst ist ja nicht eine Substanz dargestellt. Die vielen substantiellen Gestalten
könnten sogar fälschlich für Fächer und Möglichkeiten gehalten werden, zwischen de-
nen der Mensch »wählen« kann und zu denen er »gehöre«. Es müßten sehr verschie-
denartige Wertungen zusammenfließen, um so vieles substantiell zu nennen. Die
 
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