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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0147
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Psychologie der Weltanschauungen

schaulichen Inhalte bemächtigen kann, um je nachdem durch Esprit, Tiefe, dialekti-
sche Überlegenheit zu gewinnen, so daß alle Inhalte des Geistes nur gleichsam ein Ar-
senal von Waffen sind, um sich Bedeutung zu geben.45 Oder schließlich sind
Gewohnheit, Nachahmung, Unterwerfung unter Autorität Vorgänge, die die weltan-
schaulichen Inhalte übernehmen lassen, ohne daß sie in der Existenz des Einzelnen
ihre Quellen hätten oder spezifische, zugehörige Kräfte vorfänden.
38 | In psychologischer Betrachtung, die unter der Idee der Echtheit steht, kann man
also Person und Sache gar nicht trennen. Die Reden von der »Sache«, auf die es allein
ankomme, die Ablehnung, sich mit etwas anderem als der geleisteten Sache, die For-
derung, sich durchaus nicht mit der Person zu beschäftigen, haben natürlich ihr gu-
tes Recht, das uns hier nichts angeht. Je mehr die Sache als ein Einzelnes, losgelöst vom
Geist, losgelöst von einem Ganzen besteht wie etwa technische Erfindungen, chemi-
sche Entdeckungen, desto mehr wird die Sache für sich allein sprechen. Je mehr aber
umgekehrt der Geist als ein Ganzes entscheidet, desto mehr ist auch die persönliche
Existenz des Schaffenden für die Auffassung selbst des Geistigen relevant. Da wird psy-
chologische Betrachtung immer mißtrauisch hinter die Sache auf die Person sehen,
die sich dort verstecken mag. Man fragt, was will die Person mit dieser Sache, welche
Rolle spielt diese Sache in ihrer Existenz? Bei einem Philosophen zumal wird man un-
willkürlich - ganz im Gegensatz etwa zu einem Chemiker - die Existenz der Persön-
lichkeit entscheidend finden. Diese Persönlichkeit kann weniger leicht durch Werke,
als umgekehrt können die Werke durch die Persönlichkeit eine solche Beleuchtung er-
fahren, daß sie für die wertende Reaktion desavouiert werden. Die Auffassung des Gei-
stigen wird mehr oder weniger immer »persönlich«. Dieses »Persönlichwerden« wird
man dann als unsachlich bezeichnen, wenn zwischen dem Persönlichen und der Sa-
che gar keine Beziehung besteht, nicht aber, wenn eine verstehbare Beziehung da ist.
Denn das Geistige als Weltanschauliches ist auch als Inhalt nie bloß objektiv, sondern
unvermeidlich auch subjektiv und unter der Frage der Echtheit.
Alle echte, aus dem Wesen des Menschen geborene Weltanschauung, die ihrem
Träger als wahlverwandt sehr wohl von außen durch die Tradition gebracht werden
konnte, zeichnet sich durch Hartnäckigkeit für das ganze Leben aus. Sie ist nicht fort-
zubringen (ganz anders die »nützliche« Weltanschauung, die je nach den Ereignissen
äußerste momentane Energie entfaltet, aber keine Hartnäckigkeit). Die echten Welt-
anschauungen sind ferner in das gesamte Leben des Individuums verwebt, sie hängen
ihm nicht äußerlich an.
Das gilt auch von den Menschen, die in der Geschichte oder in der gegenwärtigen
Öffentlichkeit als Philosophen auftreten. »Die wahren Metaphysiker haben gelebt, was
sie schrieben.«46 Jede große Philosophie ist, wie Nietzsche sagt, ein Selbstbekenntnis
ihres Urhebers.47 Dasselbe meint Fichte: Was für eine Philosophie man wähle, zeige,
was für ein Mensch man sei.48 Im Gegensatz dazu steht ein durch bloß intellektuelle
39 Mechanismen entstandenes, durch vielerlei | Rücksichten und zufällige Einflüsse be-
 
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