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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0149
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Psychologie der Weltanschauungen

»autonom«, »autoritativ« und »individuell«, weil nun erst beide Möglichkeiten offen
stehen. Nun entsteht z.B. jener Typus der Verzweiflung, der Halt in einer übernomme-
nen Gebundenheit sucht, oder des Gedankenlosen, der ostentativ aus bloßer Vital-
kraft lebt. Retrospektiv wird für alle Zeiten menschlicher Kultur eine Weltanschau-
ungspsychologie möglich sein, aber vor allem ergiebig werden die sogenannten
Aufklärungszeiten sein, die Zeiten neuer Individualisierung. Die griechische Welt
nach Perikles, Rom, das Ende des Mittelalters, die moderne Welt seit etwa 1700.
Was Differenzierung sei, ist wieder ein allgemeines Problem der verstehenden Psy-
chologie. Der Begriff ist vieldeutig: Die Entwicklung der rein rationalen Reflexion; die
Trennungen in Gegensätze, wo vorher Einheit war; die Zunahme des Wissens von sich
selbst und seinem Erleben; das sich zum formulierten Bewußtsein-Bringen, was man un-
bewußt weiß; die Erweiterung des Erfahrungsmaterials in ihren Folgen. Nur ein Ge-
sichtspunkt sei ausgeführt: Es ist ein geläufiger Gedanke, daß dieselbe Weltanschauung
als Substanz da sein könne und doch in den Kreisen ihres Ausdrucks, ihrer Formulierung
mehr oder weniger großen Umfang annehmen könne; so daß man sich eine Skala vor-
stellen würde von der bloß daseienden bis zur voll in Gedanken und Formeln und Hand-
lungen und Lebensführung nach außen gesetzten Weltanschauung. Diese Differenzie-
rungsreihe wird jedoch problematisch und ein bloß allererstes, vorläufiges Schema,
wenn man bemerkt, daß jedes Sichbesinnen, jedes reflektierte Bewußtsein als solches
die Weltanschauung ändert. Was ich bin, kann ich nicht gerade so bleiben, wenn ich es
auch für mich bin, wenn ich es weiß. Etwas leben, tun, sein und alles dies als Inhalt, Ge-
genstand meines Bewußtseins haben, das sind nicht bloße Stufen, sondern erstens wird
dadurch das Sein qualitativ geändert, nicht nur entfaltet, zweitens fällt beides keines-
wegs immer, anscheinend fast nie zusammen. Gerade, indem ich an mir und für mich
etwas denke, eine Weltanschauung, Gesinnung formuliere, bin ich schon etwas ande-
res. Das Zusammenfallen von Sein und Meinen ist eine Idee, von der aus gesehen alles
41 wirkliche Seelenleben im welt|anschaulich-reflektierten Ausdruck etwas Doppeldeuti-
ges hat. Daraus entspringt unmittelbar der charakterisierte Zusammenhang von Echt-
heit und Unechtheit. Im ersten Augenblick, wenn man diesen Zusammenhang erfaßt,
wenn man eine absolute und isolierte Idee der Echtheit und Ehrlichkeit hier gewinnt,
so hat man wohl mit Nietzsche einen Ekel vor all dem Schwindel in der Welt des See-
lenlebens, weil anscheinend notwendig immer wieder die Erfahrung einen Widerspruch
feststellt zwischen dem, was ich bin und tue, und dem, was ich meine. Dadurch wird es
möglich, daß die einen, die Situation nutzend, hemmungslos der Phraseologie, dem
Schwindel anheimfallen; die anderen aber in einem ruhelosen Drang zur Echtheit sich
bewegen, ohne still zu stehen bis nach der Unruhe der immer erneuten Umschmelzung
und Neuformulierung in gewissem Lebensalter oder gesellschaftlichen Zuständen eine
begrenzte, aber tote Echtheit sich zu kristallisieren scheint.
Beim Versuch einer Psychologie der Weltanschauungen wird man überall sich an die
differenziertesten Gestalten halten. Das historisch Letzte wird uns gerade der Anfang
 
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