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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0161
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Psychologie der Weltanschauungen

mer fragen, was einem widerfahren kann im Leben (d.h. soweit dieses Nachdenken
nicht praktische, zweckmäßige Folgen für das Handeln hat), sondern mit Furchtlosig-
keit und Tapferkeit ihm entgegengehn.«57 Nur durch Furcht kommt der Mensch zum
Mute, wie durch Verzweiflung zur Religion.
Der aktive Mensch wählt zwischen Möglichkeiten. Für ihn allein gibt es ein Entwe-
der-Oder.58 Immer eingestellt in endliche Situationen ist dem Menschen nicht alles zu-
gleich, nicht die Totalität möglich. Die letzten Quellen und Motive dieser Wahl blei-
ben, so sehr man nachträglich für einzelnes Gründe beibringen kann, dunkel, insofern
sie in die Unendlichkeit des Lebendigen führen. Dieses Wählen ist der absolute Ge-
gensatz zum kontemplativen, insbesondere zum ästhetischen Verhalten, in welchem
das eine das andere nicht ausschließt, die Möglichkeiten nacheinander durchgegan-
gen werden. Insofern steht der Verantwortung des Wählens des Aktiven die Verantwor-
tungslosigkeit des Kontemplativen gegenüber.
Aber ebensowenig wie ästhetische Einstellung als solche etwas über schön und häß-
lich objektiv ausmacht, so wenig die verantwortliche Wahl über gut und böse. Es ist
die Meinung ausgesprochen worden: Wenn der Mensch nur bewußt wähle, so wähle
er das Rechte, man müsse ihn nur zum Wählen bringen59 (im Gegensatz zur Indiffe-
renz, zum Gehenlassen, zum Wählenlassen durch die Verhältnisse und Andere). Dem
psychologischen Betrachter steht eine Zustimmung zu diesem weltanschaulichen
Glauben so wenig an wie eine Ablehnung. Für ihn wird recht verschiedenartig, ja ent-
gegengesetzt, mit dem Bewußtsein höchster Verantwortung gewählt, er selbst weiß
nicht, was gut und böse, was schön und häßlich ist. Diese Gegensätze sind für die Welt-
anschauungen da, die die Psychologie betrachten, aber nicht schaffen kann.
55 | 5. Dem Aktiven ist dem Sinn seines Tuns gemäß der Erfolg wesentlich, der äußere
Erfolg in der Weltgestaltung oder der innere Erfolg in dem gewonnenen Zustand der
Seele bei der Selbstgestaltung. Der Erfolg läßt sich aber faktisch erstens nie sicher be-
rechnen, zweitens treten Erfolge ein, an die gar nicht gedacht war, die gar nicht gewollt
waren. Jedes Tun hat solche ungewollte Folgen. Bei feinsten Maßstäben hat jedes Tun
so eine unvermeidliche Schuld als subjektives Erlebnis zur Begleitung. Goethe sah: Je-
der Handelnde ist gewissenlos.60 Das Entscheiden, wo das Berechnen nicht ausreicht,
ist nur möglich bei dem skrupellosen Täter oder bei dem, der es tragen kann, »Verant-
wortung« zu haben; das heißt, der die unvermeidliche Schuld auf sich nehmen kann
und will. Die Furcht vor solcher Verantwortung hält den Menschen von der aktiven
Einstellung fern. Diese Verantwortung mit der Fähigkeit, überhaupt ein Ziel wertvoll
zu finden, zusammennehmend, charakterisiert Nietzsche treffend: »Man möchte
herumkommen um den Willen, um das Wollen eines Zieles, um das Risiko, sich selbst
ein Ziel zu geben; man möchte die Verantwortung abwälzen (man würde den Fatalis-
mus akzeptieren).«61 Die unvermeidliche Schuld ist 1. unwissentlich: für das Ganze der
Folgen, als ob alles gewußt wäre, 2. wissentlich: für das, was gewußt und in Kauf ge-
 
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