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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0178
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Psychologie der Weltanschauungen

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den Schmerz des Wissens gegenüber der unmittelbaren, unbewußten Naivität des le-
bendigen Erfahrens und Anschauens; 2. sie bringt Erstarrung und Tod.
In der ersten Richtung ist alles auf der rationalen Einstellung fundiert, was Beson-
nenheit und Voraussicht des Handelns, was Planmäßigkeit, was Zusammenhang des
Erkennens heißt, alle Ordnung, Organisierung, Gliederung, alles Berechenbare. Wir
erfahren in der rationalen Einstellung die Möglichkeit, unser Dasein als Ganzes durch-
zubilden und zu entwickeln, nicht Vereinzelte zu sein und alle Tage zufällig dies und
jenes über uns ergehen zu lassen oder willkürlich zu tun, sondern irgendwie allgemein
zu werden, dem Einzelnen Sinn durch Beziehungen auf Ganzheiten zu geben. Mit dem
Wissen und Berechnen aber kommt auch eine neue Art von Leiden zum Bewußtsein.
»Wer das Wissen mehrt, mehrt den Schmerz.«84 Alle Gegensätzlichkeit wird uns deut-
lich. Während der naive Schmerz nur momentan, nie verzweiflungsvoll ist, geraten
wir mittelst der rationalen Einstellung an unsere Grenzen, erfahren wir die möglichen
Verzweiflungen und gewinnen so erst die Basis, aus der alles geistig Lebendige wächst.
Der rationale Apparat, der selbst leer ist, der nur vor Unsinn schützen kann, nie selbst
materialen Sinn gibt, der dieses unlebendige Formale ist, das erst von weiteren Kräf-
ten, den Ideen, in Bewegung gesetzt werden muß, ist zugleich das Mittel, durch das
alle Differenzierung, alle Fortentwicklung des Seelenlebens erst möglich wird. Die Sub-
stanz liegt immer in der Anschauung und Erfahrung, aber diese zerfließt ohne Folgen,
ohne Beziehungen in sich selbst, wenn sie nicht durch | diesen Apparat ergriffen,
gleichsam gestaut, hinaufgesteigert wird. Diese Wirkung bedingt die Krisen des See-
lenlebens, macht erst weitere Anschauung und Erfahrung möglich.
Ist in dieser Beziehung die rationale Einstellung Bedingung der seelischen Entfal-
tung, so ist sie zweitens auch Erstarrung und Tod. Was sie erfaßt, wird als solches fi-
xiert, bloß wiederholbar, bloßer Besitz, unlebendig. Schafft sie einerseits das Gerüst,
an dem das Leben sich aufrankt, so wird dies Gerüst andererseits die Tendenz haben,
alles Leben in Gerüst zu verwandeln und damit zu vernichten. Wie der Stengel der
Pflanze, um leben zu können, einer gewissen gerüstbildenden Verholzung bedarf, so
bedarf das Leben des Rationalen; wie aber die Verholzung schließlich dem Stengel das
Leben nimmt und zum bloßen Apparat macht, so hat das Rationale die Tendenz, die
Seele zu verholzen.
Solange der rationale Apparat von Ideen in Bewegung gesetzt wird, wird diese seine
Eigenschaft als eines Mittels, als eines bloßen Apparates ihm selber begreiflich, indem
er, wie alle, so auch diese Erfahrung, die an sich anschaulich ist, umgrenzend erfaßt.
Es ist darum der rationalen Einstellung charakteristisch, daß sie in sich zugleich Ten-
denzen entwickelt, die ihn auf das äußerste steigern und Tendenzen, die ihn selbst wie-
der auflösen. Das ist bei übrigens sich feindlich gegenüberstehenden Denkern oft ein
Gemeinsames:
Die KANTische Philosophie ist der sich selbst erhaltende und überwindende Ratio-
nalismus: Mit der Ideenlehre sah sie den irrationalen Faktor, der zur rationalen Ein-

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