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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0179
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Psychologie der Weltanschauungen

Stellung wesenhaft gehört. - Hegel erfaßte schon in seiner Jugend die Eigenschaften
des Verstandes, daß er überall Schranken setzt, verendlicht. Diese Schranke wird nicht
im Denken selbst, sondern im Leben aufgehoben, das am Gerüste jenes Denkens sich
entfaltet. Wäre unser endliches Dasein nur Verstand und nicht selbst Leben, das heißt
ein Unendliches, so wäre unsere faktische, lebendige Erhebung zum Unendlichen aus-
geschlossen. Was das Leben als lebendiger Vorgang leistet, das immer neue Schaffen
der Totalität, die die vom Verstände getrennten Gegensätze in sich enthält, das soll für
Hegel nun im Rationalen selbst die spekulative Vernunft leisten. Der Verstand ver-
endlicht in Gegensätzen und Abstraktionen überall. »Die Philosophie hat in allem
Endlichen die Endlichkeit aufzuzeigen und durch Vernunft die Vervollständigung der-
selben zu fordern.«85 Die spekulative Vernunft dann leistet wie das Leben den Auf-
schwung vom Endlichen zum Unendlichen. - Kierkegaard beschreibt es als das We-
76 sen der Intellektualität, daß sie ihrem letzten Ziele nach sich selbst auf|heben
will.86 - Sokrates sah ein, was das Rationale nicht kann, wenn er sagte: Ich weiß, daß
ich nichts weiß.87
Die Kräfte, die das Rationale in Bewegung setzen und entfalten, entwickeln zu-
gleich den Sprengstoff, mit dem das Rationale wieder überwunden wird. Wie mit dem
Begriff die Anschauung, so ist mit dem Rationalen das Irrationale als Kraft unvermeid-
lich verknüpft in der echten vollständigen Gestalt. -
Bevor die Gestalten, die durch die vier typischen Prozesse aus der vollständigen und
echten Gestalt der rationalen Einstellung entspringen, charakterisiert werden, werfen
wir einen Blick auf die Sphäre der besonderen Denktechniken. Die Arten des Inbezie-
hungsetzens, des Fortgangs im denkenden Umgrenzen und Beziehen sind mehrfache.
Ihre Untersuchung nach der Eigengesetzlichkeit des Rationalen ist Sache der Logik.
Hier bedarf es des Hinweises, dieses ganze, riesige Gebiet in psychologischer Relevanz
zu betrachten. Wir beherrschen keineswegs alle diese Denktechniken, sind wohl mehr
oder weniger, ohne daß wir es wissen, auf einzelne eingeschult. Gelegentlich fällt es
uns wohl auf, daß wir und andere ganz unbemerkt durch besondere rationale Mecha-
nismen im Denken gleichsam eingedrillt sind. Ja selbst wenn wir bewußt neue Denk-
formen kennen lernen, bemerken wir zu unserer Überraschung unser Haften an unse-
ren alten Denkgewohnheiten, die unbemerkt uns immer wieder so denken lassen, wie
wir es unserem Bewußtsein nach schon überwunden haben. Alle unsere Bildung ist
viel weniger Stoffkenntnis der einzelnen Wissenschaften als das Lernen des spezifi-
schen Denkens einzelner Gegenstandssphären und der Denkformen überhaupt. Man
lernt diese nur am Stoff, in stofflicher Einstellung. Aber diese »formale Bildung« ist das,
was uns erst die materialen Welten wirklich eröffnet. Wie sehr das der Fall ist, erfah-
ren wir, wenn wir nach Einsicht in neue Denkformen unser Gefesseltsein an frühere
durch Jahre hindurch immer wieder erleben.
In der psychologischen Betrachtung werden wir uns dessen bewußt. Aber allein das
Studium der Logik kann dies Wissen vermitteln, indem wir die Einsichten der Logik
 
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