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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0181
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Psychologie der Weltanschauungen

78 erwerbenden | Künstlers den Begriff des Sophisten aus, indem mit jedem neuen Gliede
die Züge ähnlicher und sprechender werden ...«').93
3. Die Verwendung des Satzes des Widerspruchs einerseits, der Unterscheidungen,
Definitionen, Gattung-Arteinteilungen andererseits als entscheidender Werkzeuge ist
die scholastische Methode im eigentlichen Sinne. Man isoliert, definiert, indem man
einen Satz als Frage auf stellt und seine Elemente fixiert. Darauf werden die möglichen
Antworten zusammengestellt. Die Antworten werden einzeln mit Gründen und Ge-
gengründen versehen; Widerlegungen und Begründungen gehen durch Schlußketten.
Schließlich wird von allem die Bilanz genommen und eine Entscheidung gefällt. Daß
diese Entscheidung nicht wirklich das Resultat der Technik ist, sondern vorher da war,
ist selbstverständlich").94
II. Die experimentierende Denktechnik.
Jede Denktechnik hat eine spezifische Beziehung zu Anschauung und Erfahrung. Die
scholastische Technik hält sich zunächst an Anschauung und Erfahrung, die jeder-
mann bekannt und selbstverständlich ist, dann legt sie Sammlungen alles nur Erfahr-
baren und Anschaulichen an, sei dieses nun sinnlich oder seelisch oder geistig. Das ge-
füllte Museum ist ihr Symbol ebenso wie das ungeheure Schachtelsystem der Einteilungen.
Immer aber geht diese Technik von dem anschaulichen Material aus, sie formt, verar-
beitet, klassifiziert, analysiert nur das Gegebene. Sie kreist um den unendlichen, aber
unveränderlichen Stoff, ihn umgrenzend, aber nicht befragend.
Das Fragestellen an Anschauung und Erfahrung ist das Wesen der experimentieren-
den Denktechnik im weitesten Sinne. Sie stellt in ihr Zentrum nicht das Phänomen,
sondern den Zusammenhang. Sie konstruiert denkend mögliche Zusammenhänge
und prüft in der Erfahrung nach, ob sie stimmen. Ihr Denken ist eine Wechselwirkung
von Theorie und Anschauung, aber so, daß die Theorie das Vehikel wird, um Fragen
zu stellen, auf die in der Anschauung eine Antwort mit ja oder nein möglich wird.
Diese Denktechnik hat für die Naturwissenschaften auch theoretisch Galilei klar
gemacht.95 Die zugrunde liegende Theorie unter Herrschaft der Mathematik (soweit die
Erfahrung sich auf das Meß- und Zählbare erstreckt) ist charakteristisch. Die Rolle der
79 Theorie in den Geisteswissenschaften spielt der Idealtypus, wie ihn Max | Weber be-
griffen hat.96 Dem bloßen Schildern und Anschauen tritt ein Befragen der historischen
Zusammenhänge gegenüber durch Konstruktion von Idealtypen und durch Vergleich
der Fälle. Das Erfahrbare ist hier wesentlich nur qualitativ anschaulich, daher die Ma-
thematik keine Rolle spielt. Das durchdringende, auf die Zusammenhänge gehende,
intensive, zwischen Konstruktion und anschauender empirischer Nachprüfung hin-
und hergehende Verfahren ist durchaus auf demselben Niveau wie das naturwissen-

Kuno Fischer, Logik § 21.
So wird die Methode z.B. durch Windelband geschildert.
 
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