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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0188
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Psychologie der Weltanschauungen 95
lein, in sich selbst; es tritt Vernichtung unseres Selbst ein; zwischen vollkommener Ab-
geschiedenheit und dem Nichts gibt es keinen Unterschied. Denn für uns, sofern wir
in der gegenständlichen Welt leben, ist das im Grunde der Abgeschiedenheit Erlebte
eben »nichts«, das doch wieder positiv gleichnisweise beschrieben wird als: Einfließen
in den grundlosen Abgrund, Ruhe, Unbewegtheit. Frei, lauter und einig ist das Wesen,
ichlos, formlos, bildlos, übervernünftig, es hat sich aller »Dinge« begeben. In unend-
lichen Variationen weist Eckhart so auf das Erleben Gottes hin, das zwar nicht wil-
lensmäßig herbeigeführt werden kann, zu dem aber mittelbar der Weg führt über al-
les das in der subjekt-objektgespaltenen Welt Hochgewertete, wie Glauben, Beten,
Tugendreinheit, Gottesfurcht. Nicht als Berauschung und Ekstase, nicht als asketisch
bedingte Exaltation, sondern als Finden des Grundes, bei einem reinen, strengen, gläu-
bigen Menschen in sinnvollem Zusammenhang mit seinem gesamten psychologi-
schen Wesen ist diese mystische Abgeschiedenheit zu denken.
Aber der Mensch ist Kreatur. Er vermag wohl in den Zustand der Abgeschiedenheit
und Zeitlosigkeit zu versinken, aber nicht dauernd. Auf die Frage, ob denn »die Seele
sich wiederfinde«, antwortet er, »daß sie sich wiederfinde, und zwar an dem Punkte,
wo ein jegliches vernunftbegabtes Wesen sich seiner selbst bewußt wird. Denn wenn
sie auch sinkt und sinkt in der Einheit des göttlichen Wesens, sie kann doch nimmer
auf den Grund kommen. Darum hat ihr Gott ein Pünktlein gelassen, an dem kehrt sie
sich wieder um, in ihr Selbst, und findet sich zurück und erkennt sich - als Kreatur«') .IO4
| Es scheint von vornherein ein innerer Widerspruch zu sein, wenn die mystische
Einstellung einen Ausdruck sucht oder zu besitzen meint. Doch hat dieser Ausdruck
auf zweierlei Weise einen Sinn:
1. Als symbolischer Ausdruck, der ganz mittelbar, indirekt hinzuweisen sucht auf
jene Abgeschiedenheit. Es ist ein Versuch des Gestaltens in Symbolen, Werken, Wor-
ten, von denen bei reiner Abgeschiedenheit immer wieder der restlose sich alle solche
Äußerungen und Gestaltungen versagende Rückweg genommen wird. So ist es aber
doch begreiflich, daß wir in den Predigten, in mittelalterlichen Kunstwerken einen
Hauch jenes Geistes verspüren, der alles Gegenständliche zum Symbol macht und in
einem Schritt weiter auf alles Gegenständliche verzichtet.
2. Der Ausdruck kann als Erweckung gemeint sein, mit dem Ziel, indirekt im Hörer
die Anlage zur mystischen Abgeschiedenheit zu wecken und zu entwickeln: in der Pre-
digt, in der Angabe von Übungen und Lebenseinstellungen.
Es ist erstaunlich, wie ähnlich in allen Kulturen das Mystische beschrieben wird.
Der Mystiker, dem in seiner Abgeschiedenheit aller Ausdruck fremd zu sein scheint,
ist doch zugleich Mensch in der Subjekt-Objektspaltung und redet von dem, von dem
eigentlich nicht zu reden ist. Darum hat alle Mystik eine Paradoxie des Ausdrucks, in
der, was gesagt schien, sofort zurückgenommen wird, und diese Ausdrucksweise be-

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Nach der Übersetzung Eckharts von Büttner.
 
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