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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0190
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Psychologie der Weltanschauungen

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sehen Weltbildern lassen die faktischen historischen Erscheinungen der Mystik sehr
verwickelt sich darstellen. Insbesondere das Streben nach ungewöhnlichen, »höhe-
ren«, Bewußtseinszuständen, nach Erfahrungen bei autohypnotischer Behandlung,105
das Wesentlichnehmen der Bewußtseinsveränderungen, die kausal nur durch spezifi-
sche psychopathologische Prozesse entstehen, charakterisieren diese ungeklärten, un-
getrennten Gesamteinstellungen, in denen das reine Mystische vielleicht oft, aber
nicht einmal immer ein Element ist.
| 3. Die Verabsolutierung: Die mystische Einstellung ist an sich weder aktiv noch kon-
templativ, weil sie nicht mehr gegenständlich ist. Ihr Merkmal ist das Aufgehobensein
der Subjekt-Objektspaltung und damit der gegenständlichen Intention. Sofern der My-
stiker aber auch ein existierender Mensch ist, und nicht immer in mystischen Einstel-
lungen verharren kann, wenn er lebt, ist der Mystiker, soweit er die mystische Einstel-
lung zu seinem Lebenssinn verabsolutiert, unvermeidlich in der Tendenz, ganz passiv
und bestenfalls ein wenig kontemplativ zu sein. So wenig es darum Sinn hat, das my-
stische Erlebnis aktiv oder passiv oder kontemplativ zu nennen, weil es außerhalb die-
ser Gegensätze steht, so sehr hat es Sinn, den Mystiker, der das Mystische verabsolu-
tiert, passiv zu nennen.
4. Die unechten Gestalten. Unecht ist das Schwelgen im Rausch der Ekstasen, das Ge-
nießen der Zustände ohne die Fülle als wesentlich zu haben, das bloße Bewegtsein von
leichter, passiver, sensationeller, wollüstiger Hingegebenheit; dann die Lebenserleich-
terung und Faulheit, die durch die Verabsolutierung des Mystischen möglich wird,
wenn die Askese als technisches Mittel abgelehnt oder nur bescheiden, wie sie auch
genießenden Zwecken dient, angewandt ist. Die moderne Mystik als literarisches Fa-
brikat dient überwiegend der Flucht aus dem Leben und dem artistischen Genuß. Man
wird Epikureer des Geistes, man wird Hedoniker unter dem Namen, Mystiker zu sein.
Die gegebene Charakteristik faßt die mystische Einstellung enger als es etwa in der Ge-
schichte der Mystik geschieht. Die mystische Einstellung wird einerseits getrennt gehal-
ten von der intuitiven und andererseits von der später zu beschreibenden enthusiasti-
schen Einstellung. Beide haben Verwandtschaft zur mystischen: Durch die fehlende
Subjekt-Objektspaltung, deren Dasein in der intuitiven Einstellung fortwährend gesucht,
in der enthusiastischen immer noch da ist. Die intuitive Einstellung hat eine Mannigfal-
tigkeit der Fülle, die im Mystischen für den Beobachter nicht mehr zu sehen ist. Die en-
thusiastische Einstellung ist vor allem Bewegung gegenüber der bloß ruhenden Abge-
schiedenheit des Mystischen. Beiden aber rückt Mystisches insofern wieder nahe, als man
formulieren kann: Aus mystischen Erlebnissen entspringen neue Subjekt-Objektspaltun-
gen, d.h. Spaltungen, in denen Ich und Gegenstand als neue da sind; und insofern man
sagen kann, alle Subjekt-Objektspaltung führe zuletzt zur Rückkehr in neue mystische
Einstellungen, die erst durch die Prozesse in der Spaltung ermöglicht werden').106

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Man vergleiche den Abschnitt über Mystik und Idee.
 
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