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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0199
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io6

Psychologie der Weltanschauungen

erreichen und damit fertig sein, sondern jedes Ziel überwinden, sie wollen nicht zu-
frieden mit sich sein, sondern anspruchsvoll und hart, sie wollen nicht zu einem
Punkt, das Ich genannt, werden, sondern zur konkreten Totalität, zur Mannigfaltig-
keit, die in sich zusammenhängt und zielgerichtet ist ohne endgültige Ziele. Sie sind
nicht absolut und ewig getrennt von ihren Zielen, sondern zugleich nie da und doch
schon mitten darin.
In der Selbstgestaltung des Menschen ist der völlige Gegensatz zur »plastischen Na-
tur« der »Heilige«, der in seiner Art ein anderes Äußerstes von menschlichen Möglich-
keiten verwirklicht. Der Heilige vollendet seine Selbstgestaltung nicht in einem un-
endlichen Prozeß der bildsamen Auseinandersetzung mit inneren und äußeren
Erfahrungen in der Welt, mit den Erfahrungen in der Gestaltung der Wirklichkeit, in
dem Erstreben und immer teilweisen Haben eines Persönlichen oder eines Allgemei-
nen in der konkreten Realität, sondern er gestaltet sich in Hinsicht auf ein Außerwelt-
liches, nach einem Prinzip des Übersinnlichen. Der Heilige erreicht ein Ziel, indem er
sein Ich vernichtet. Die plastische Natur und der Heilige können beide sagen, daß sie
sich »überwinden«, aber der eine, um das persönliche Ich zu werden, der andere, um
ioo sich zu annullieren. | Der eine glaubt durch sich als konkrete Persönlichkeit ein zu-
gleich Allgemeines zu werden, der andere wird Allgemeines, indem er aufhört, persön-
lich zu sein. Der eine baut unaufhörlich auf, lebt in einem Wachstumsprozeß, alles
wird Material der Assimilation und Reaktion, der andere erreicht irgendwann ein Sein,
er ist metaphysisch geborgen und erlebt nur Wiederholungen, die gerade als Wieder-
holungen sich metaphysisch-zeitlos repräsentieren.
Zu diesem Typus des Heiligen gehören folgende charakteristische Momente:
1. Er erreicht das Absolute, er ist als Selbst nicht mehr, aber ist Absolutes. Daher ist er
Weg für andere, Vorbild im eigentlichen Sinne. Er hat Erweckungen oder Impulse oder
gar Mitteilungen zu geben, die ihm allein eigen, von ihm allein produziert, d.h. ihm
durch »Gnade« zuteil geworden sind. Die anderen sind auf ihn angewiesen. Er kann
ihnen geben, was sie von sich aus nicht haben. Der andere fühlt sich nicht als Mitstre-
benden, als letzthin - mag er noch so wenig sein - in einer großen Phalanx mit ihm,
sondern als Abhängigen, Anbetenden, Verehrenden, liebend und bedingungslos sich
Unterwerfenden. Bei jenen plastischen Persönlichkeiten dagegen entwickelt sich
höchstens das Bewußtsein, nach außen setzen zu wollen, was sie erreicht haben, ihr
Resultat und ihre Gestalt nicht verloren gehen zu lassen, nicht weil sie an sich das Ab-
solute wären, sondern weil sie eine Existenzform desselben waren.
2. Dem Wesen dieses Typus gehört eine Milde und Freundlichkeit an, Mitleid und
Liebe. Sie leben nur im Element von Frieden und Freundschaft, von Hingabe. Die Liebe
ist aber nicht Liebe von Persönlichkeit zu Persönlichkeit, sondern allgemeine Men-
schenliebe, ja Liebe für alles. Die Liebe wendet sich allem Nächsten zu, jedem, der ge-
rade gegenwärtig, sie scheint, wie die Sonne, über Edles und Gemeines. Sie ist unper-
sönlich, jenseitig verwurzelt, gleichgültig gegen die Realität und die Folgen ihres Tuns.
 
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