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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0201
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Psychologie der Weltanschauungen

nicht Verrücktheit und Verschrobenheit der Gesinnung, sondern eine wesentliche und nur sel-
ten sich hervortuende Seite der menschlichen Natur.«118
102 | Die plastische Natur und der Heilige scheinen sich psychologisch auszuschließen,
weil jede Verwirklichung in der einen Richtung Zerstörung in der anderen mit sich
bringt. Es ist ein Ausschließen nicht aus philosophischen Gründen der Konsequenz,
der logischen Unvereinbarkeit, sondern wegen der psychologischen Unmöglichkeit
des Vereinens. Wenn nicht zwischen diesen beiden Richtungen der Selbstgestaltung
innerlich praktisch entschieden wird, scheint es psychologisch unvermeidlich, daß
chaotische Seelenartung, daß Desorientierung, Unsicherheit, Haltlosigkeit gegenüber
drängenden Situationen eintritt.
Es ist bedenklich, solche Entweder-Oder endgültig aufzustellen. Der Lebensprozeß
kann faktisch vereinen zu neuer Gestalt, was für Anschauung und Erfahrung bis da-
hin unerreichbar war. Die Vereinigung geschieht nicht durch Denken, sondern durch
den seelischen, lebendigen Prozeß. Jesus z.B. scheint auf diese Art problematisch. Ge-
genüber den übrigen orientalischen Heiligentypen hat er relativ viel mehr von einer
plastischen Persönlichkeit.119 Aber mag auch eine Synthese der plastischen Natur und
des Heiligen möglich sein, die ich nicht sehe, jedenfalls ist wohl zu unterscheiden, daß
statt des Ausschließens ein endgültiges Unterordnen des einen Typus möglich ist, der
dadurch seiner spezifischen Eigenschaften beraubt wird. So entsteht z.B. die plastische
Natur, die sich Liebe, Nächstenliebe, mystische Gestaltungsprozesse erlaubt, aber in
allen entscheidenden Umständen sie ignoriert, d.h. nicht auf sich verzichtet, sich
selbst behauptet. Nur die Geste und die unernste, nicht opfernde Gemütsbewegung,
nicht die Umschmelzung, nicht die Selbstvernichtung tritt ein.
Der Gegensatz der plastischen Natur und des Heiligen zeigt sich auch in der gegen-
seitigen Auffassung und Einschätzung. Vom Standpunkt der plastischen Natur ist der Hei-
lige würdelos, zum Tode und zum Nichts führend; ihm imponiert wohl jene metaphy-
sische Festigkeit, und er kann sogar eine »Persönlichkeit« in dieser Unbedingtheit und
Festigkeit sehen (der Frührenaissance imponiert die Persönlichkeit des Franz von
Assisi,120 nicht seine Lehre). Dem Heiligen ist dagegen die plastische Natur ein armes,
in den Täuschungen des Diesseits befangenes Wesen, ein hochmütiger Mensch, der,
Mensch und Gott verwechselnd, sich selbst zum Höchsten macht, ein einsamer, der
übersinnlichen Heimat beraubter, isolierter Mensch. -
Zwischen den echten, reinen Typen beider ist ein Kampf nicht möglich, wohl aber,
wenn unechte Erscheinungsformen von heterogenen Kräften in der Wirklichkeit ge-
103 nutzt werden. So ist es für | substanzarme, an sich würdelose Persönlichkeiten nahelie-
gend, den Heiligentypus zu propagieren, wobei sie sich vielleicht bescheiden fern von
diesem Ziel nennen; in Gelassenheit und Milde, in Verehrung und Bewunderung vor
den echten Typen benutzen sie diese, um trotz ihrer Substanzarmut, ihrer unplastischen,
persönlichkeitslosen Artung Eindruck und Macht in der Welt zu gewinnen. Das gelingt
in einer Zeit, die der Weltanschauung entleert, von Weltanschauungsgier erfüllt ist. Was
 
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