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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0203
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Psychologie der Weltanschauungen

rung ist nötig. Daß Langeweile vermieden werde, ist Reichtum nötig: Zugänglichkeit für
alles, Zulassung aller Inhalte, Fähigkeiten, aller Lüste, Freuden, Räusche an der Periphe-
rie, aber nur für eine gewisse Zeit, nur nicht ernsthaft. Kontrast und Wechsel wird Lebens-
bedingung. Man wechselt Situation und Eindrücke, man wechselt vor allem seine Tä-
tigkeiten und Funktionen. Das Leben muß ruhelos sein, damit es nicht irgendwo in
einem Erlebnis, einer Aufgabe, einem Ernst festgefahren wird. Alles muß lösbar, letzt-
hin unwichtig bleiben. Eine Erziehung zur Substanzlosigkeit setzt ein, indem man sich
hütet vor jeder Entscheidung, jedem Endgültigen und Unbedingten. Dadurch wird eine
Unerschütterlichkeit in jeder Situation und eine Resignation im innersten Kern er-
strebt, der gar nichts mehr wichtig ist. Alles Endliche und Einzelne wird zwar genossen,
aber zugleich verneint, jedoch nicht durch ein Ewiges und Substantielles, sondern nur
durch die Nötigung, die genießende Einstellung in allen Stürmen aufrecht zu erhalten.
Von allen Eindrücken und Erlebnissen werden die ästhetischen bevorzugt, als die un-
verantwortlichsten, irrealsten und doch so reichen. Da nichts unbedingt genommen
werden darf, muß es vermieden werden, ganz bei der Sache zu sein.
Alles dreht sich letzthin um die eigene Persönlichkeit, deren Gaben und Begabungen
als ein Hauptgegenstand des Genusses wohlgepflegt und - wenn auch ohne jede ide-
enhafte Lenkung - entfaltet werden. Das Leben wird nicht um eine Sache, eine Auf-
105 gäbe, eine Leistung, eine Idee zentriert, wenn auch alles dieses mal | auf Probe versucht
und genossen wird. Es wird z.B. eine persönliche Atmosphäre, ein Haus, ein Kreis als
ein organisches Gebilde um das Zentrum der eigenen Persönlichkeit geschaffen. Ohne
jede Rücksicht auf sachliche Berechtigungen, auf Gerechtigkeit, auf Bedürfnisse und
Forderungen anderer wird ausgestoßen, was nicht in diese persönlich determinierte
Atmosphäre paßt oder nicht mehr paßt. Alle sachlichen Inhalte, alle Aufgaben, alles
was Menschenseele und Menschengeist erfüllen kann, spielt eine Rolle, aber nie wird
der Mensch innerlichst davon berührt, er wird nie zu etwas verpflichtet, nicht zu Treue,
nicht zu Konsequenz, nicht zum aktiven Eintreten - höchstens genießt er, wenn es
paßt, bei objektiver Enthaltung von allen Konsequenzen ein Gefühl der Treue, ohne
dadurch verpflichtet zu sein, ein Gefühl der Aktivität, ohne Konsequenzen für reales
Tun überhaupt zu ziehen. So wird langsam auf dem Wege des genießenden offenen
Zuwendens in egoistischer Zentrierung ein unverpflichteter »Kulturmensch«.
b) Statt der Fülle und Breite persönlicher Individualität kann etwas Allgemeines,
Unpersönliches in seinen Forderungen zur Hauptsache werden. Dabei ist aber das Ziel
in der Person gelegen, die ihre Würde durch Rechthandeln bei objektiver Rechtferti-
gung oder ihre gleichmütige Seelenruhe erreichen will. Ist die genießende Einstellung
das Mittel, um auf dem Wege der Disziplin zum kultivierten Epikureer zu werden, so
ist die asketische Einstellung das Mittel, um durch Verneinungen zu jenem punktuel-
len persönlichen Etwas zu werden, das nur Würde durch Gehorsam gegen das Allge-
meine hat. Hierher gehörende Gestalten sind der Pflichtmensch und der Stoiker:
 
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