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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0209
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u6

Psychologie der Weltanschauungen

aber keine Existenz an sich, ist vielmehr die Form gegenständlichen Daseins in unserer Subjekt-
Objektspaltung.
4. Die formale Dialektik der Zeitbegriffe beginnt mit Platos Denken. Der Augenblick ist das
Paradox, als Übergang zu sein und doch nicht zu sein. Der Augenblick ist als bloßer verschwin-
dender Zeitmoment der absolute Gegensatz zur Ewigkeit und gerade darum nach dem Prinzip
der coincidentia oppositorum129 in nächster Verwandtschaft zur Ewigkeit.
5. Der inhalterfüllt gedachte Augenblick ist die erlebte Quelle des Einmaligen, des Sprungs, des
Entschlusses. Er enthält in seiner Verantwortung das Zeitlose, ist als Geschehnis das Unwider-
rufliche. Er ist das Medium des Geschichtlichen im Gegensatz zu den klaren Trennungen und
zeitlosen Oppositionen der bloßen begrifflichen Formen. Er ist das Undurchdringliche, Unend-
liche, absolut Erfüllte, das Medium der Krisen und Schöpfungen.
6. Die Metaphysik der Zeit bewegt sich in Bildern und Gedanken, die die Zeit aufheben zugun-
sten des Ewigen, das nicht zeitlos wie die transzendentalen Formen, nicht die endlose Sukzes-
sion des Zeitlichen, die leere Ewigkeit, sondern die erfüllte Ewigkeit ist, ein absolut paradoxer un-
vorstellbarer Begriff, auf den durch mannigfache Wege die Intention gelenkt wird. Das sich mit
gewaltiger Schnelligkeit drehende Feuerrad erscheint als ruhiger Kreis und veranschaulicht die
112 Ruhe der schnellsten Bewegung, die | Ewigkeit in der Totalität des unendlichen Zeitverlaufs.
Mohammed, der zwischen Beginn und Vollendung des Umfallens einer Kanne durch ganze
Welten wandert, veranschaulicht die Unendlichkeit des Augenblicks.130 Von der umgekehrten
Seite her veranschaulicht die Unwirklichkeit der Zeit die Geschichte von dem Schläfer, der ei-
nen Augenblick geschlafen zu haben glaubt und tausend Jahre vergangen sieht.131 Die Gleich-
zeitigkeit des zeitlich Getrennten wie sie in den Vorstellungen der gleichzeitigen Gegenwart al-
ler in den Geisterreichen von Himmel und Hölle besteht, veranschaulicht die Ewigkeit. Alle
diese Bilder nehmen unvermeidlich die bloße Sukzession, die Zeitlichkeit, wieder in sich auf,
die durch sie gerade zerstört werden solE Sie vermögen zu zeigen, aber nicht eigentlich zu ver-
anschaulichen. Sie haben alle das eigentümlich Faszinierende der paradoxen Vorstellungen und
Begriffe, die an den Grenzen unseres Daseins entspringen.
Die Besinnung darauf, was über die Zeitbegriffe gedacht worden ist, erfüllt mit der
Anschauung von der Rätselhaftigkeit des Augenblicks. Die Weise, wie der Augenblick
erlebt wird, ist nicht zu fassen, weil darin Unendlichkeit liegt, aber dahin zu sehen,
lehrt ein Wesentliches der Lebenseinstellung des Menschen zu ahnen. Des Menschen
Leben zu sehen, müßte man sehen, wie er den Augenblick lebt. Der Augenblick ist die
einzige Realität, die Realität überhaupt im seelischen Leben. Der gelebte Augenblick
ist das Letzte, Blutwarme, Unmittelbare, Lebendige, das leibhaftig Gegenwärtige, die
Totalität des Realen, das allein Konkrete. Statt von der Gegenwart sich in Vergangen-
heit und Zukunft zu verlieren, findet der Mensch Existenz und Absolutes zuletzt nur
im Augenblick. Vergangenheit und Zukunft sind dunkle, ungewisse Abgründe, sind
die endlose Zeit, während der Augenblick die Aufhebung der Zeit, die Gegenwart des
Ewigen sein kann.
Der Augenblick aber wird ebenso als das Nichtige, das Vorübergehende angesehen,
als das, worauf es gar nicht ankommt, als das bloße Mittel, das für ein Zukünftiges zu
 
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