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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0210
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Psychologie der Weltanschauungen 117
opfern ist, als ein Zeitmoment in dem endlosen Zeitverlauf, als das immer bloß Ent-
schwindende.
Beides ist psychologisch wahr, aber mit dem Worte Augenblick wird an dem unter
formalen Zeitbegriffe Identischen ganz Heterogenes, nämlich das Erfüllte und Leere
bezeichnet. Das Zeitatom ist zwar nichts, der Augenblick aber alles. Nicht jederzeit hat
der Mensch das Erleben des Augenblicks, zu allermeist macht er bloße Zeitmomente
durch, die einem anderen dienen.
Wenn aber nun in selbstreflektierter Einstellung die Forderungen, den Augenblick
als gleichgültig anzusehen, und die umgekehrte, im Augenblick alles zu sehen, sich
gegenüberstehen, so ist dieser Gegensatz ein doppeldeutiger. Psychologisch gibt es
zwei verschiedene Gegensatzpaare von Einstellungen: erstens steht dem Unterordnen
alles Augenblicklichen unter ein imaginäres Zukünftige die leben |dige Einstellung im
Gegenwärtigen gegenüber; zweitens bekämpfen sich epikureische, ästhetische Ver-
herrlichung des losgelösten Augenblicks und die Einstellungen, die im Augenblick auf
ein Ganzes gerichtet sind. Dies ist näher auszuführen:
1. Die rational-reflexive Einstellung, welche zugunsten irgendeines Zukünftigen -
das selbst wieder, wenn der Augenblick da ist, ein momentaner, realer Zustand wäre -
alle Gegenwart als ein Mittel ansieht, jeden Augenblick im Dienste einer in der Zu-
kunft zu erreichenden Leistung verwendet (im übrigen verachtet), läßt alles Leben von
der Zukunft zehren, betrügt den Menschen um die Gegenwart, macht ihn unfähig -
wenn wider Erwarten das, wofür alles in Dienst gestellt wurde, erreicht wird -, dieses
Erreichte als selbständige Realität zu fassen und zu erleben. Immer wird wieder das Ge-
genwärtige unter Hinblick auf die Zukunft betrachtet, das Leben und Erleben immer
als bloßes Mittel vernichtet. Niemals handelt es sich um eine erlebnismäßige Durch-
dringung von Gegenwart und Ziel, sondern die Gegenwart wird als Mittel im techni-
schen Sinne erlebt, zerstört, preisgegeben in der Erwartung des zu Erreichenden. Dies
zu Erreichende hat seinem Wesen nach durchaus endlichen Charakter, mag es nun
eine Arbeitsleistung, ein Amt, eine Belohnung, ein Leben im Himmelreich sein. Ge-
gen diese Vergewaltigung alles Erlebens zugunsten imaginärer, weil unerlebter Dies-
seitigkeiten richtet sich die oppositionelle Forderung: Lebe in der unbedingt in sich
wertvollen Gegenwart, betrüge dich nicht um das Substantielle zugunsten einer Zu-
kunft, lasse die unmittelbare Realität nie bloßes Mittel sein; mit einem Worte: Lebe!
So schildert Dilthey Lessings Forderung: »Erfülle dich gegenüber einer das Leben
gleich einem wertlosen Stoff Tag für Tag in Plänen und Erwartungen aufbrauchenden
Gemütsverfassung, welche jeden gegenwärtigen Augenblick zum Mittel für einen zu-
künftigen machen möchte, mit dem selbständigen Wert jeden Tages.«132
2. Um etwas ganz anderes handelt es sich bei der Forderung von der Selbstgenüg-
samkeit des augenblicklichen Erlebens, das ganz in der zeitlichen Gegenwart beschlos-
sen sein und aufgehen soll, bei der Forderung des Epikureers und Ästheten: Für den
nächsten Tag gibt es keine Gewißheit, jeder Genuß ist mitzunehmen, über das Genie-

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