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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0212
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Psychologie der Weltanschauungen 119
nicht wirklich, sondern es nur undifferenziert ist. Sie ist zunächst geneigt, den Augen-
blick alsbald für das Nichtige zu erklären, ihn als den gleichgültigen, bloß einzelnen
Zeitmoment der langen Dauer des Zeitverlaufs unterzuordnen. Nun entstehen die Zu-
stände, in denen der Mensch sich wieder nach der Fülle des Augenblicks sehnt, nun
ist aber auch erst der Augenblick als etwas Positives da; jetzt gibt es erst auf Grund der
Reflektiertheit eine eigentliche Bejahung des Augenblicks, ein Erfassen seiner Uner-
gründlichkeit, seiner Unendlichkeit, seiner Schöpferkraft. So wird das Leben oft gelebt
mit dem Bewußtsein, daß es auf die Augenblicke ankommt, wird gearbeitet, reflektiert,
geleistet, gewagt in dem Bewußtsein der Vorbereitung jener Augenblicke, deren Qua-
lität und Bedeutung ungewußt doch die hoffende Seele erfüllt. So ist dann das seeli-
sche Leben ein Pulsieren, in dem die höchsten Gipfel seltene Augenblicke, die Tiefen
bloße Zeitmomente als Mittel sind. Dazwischen breiten sich alle Stufen der Lebendig-
keit und der Nähe zum Unendlichen aus mit der Tendenz, möglichst nirgends bloße
Zeitmomente, die absolut leer und nur Mittel sind, übrig zu lassen. Auf Grund solcher
Erfahrungen wird durch die Reflexion hindurch schließlich der Augenblick mehr als
der ganze endlose Zeitverlauf, wird er erlebt als über der Zeit, als erfüllt und erfüllend.
Im Augenblick ist subjektiv erlebt die einfache Lebendigkeit der Vitalität und die le-
bendige Kraft dessen, was als metaphysische Idee sich einen dürftigen und abstrakten
objektiven Ausdruck gibt. Nur was so im Augenblick lebendig ist, ist überhaupt da.
Aber die ganze ungeheure Welt der Reflektiertheit wird Basis und Stoff, den Augenblick
mit neuen Kräften zu erfüllen, hat für den lebendigen Menschen nur Sinn, sofern sie
dies auch wirklich tut. -
Es ist für die Erfassung des psychologischen Wesens des Augenblicks, das man ja
nur umschreiben, nicht bestimmen kann, zweckmäßig, gewisse Abnormitäten des Er-
lebens des Augenblicks zu sehen, die uns durch einen Mangel drastisch zeigen, was sonst
da ist, aber in seiner Selbstverständlichkeit nicht bemerkt wird. Diese Abnormitäten
beziehen sich zunächst auf die unmittelbare Lebendigkeit in den vitalen Sphären, aber
ebenso, wenn auch problematischer, in den reflektierten Sphären.
Janet')138 hat als »fonction du reel« die Zusammengehörigkeit einer Menge von
Phänomenen beschrieben, die bei Nervösen häufig sind: Während sie sich ohne jede
Störung mit dem Vergangenen, den Phantasieinhalten, dem Abstrakten beschäftigen
können, sind sie | unfähig, reale Entschlüsse zu fassen, die Angst des Augenblicks zu
überwinden, auf die konkrete Situation aufmerksam zu sein, die reale gegenwärtige
Welt, die sie objektiv wahrnehmen, subjektiv auch als wirklich zu erleben. Es entste-
hen die merkwürdigen Zustände, in welchen den Menschen alles Wahrgenommene
als unwirklich, sie sich selbst als unwirklich erscheinen (nicht für das Urteil, das un-
gestört bleibt, aber für das Erlebnis). Die Gefühle und Instinkte sind nicht im Verhält-
nis zur realen Gegenwart, sondern unangepaßt, abwesend, als ob eine Spaltung zweier

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Janet, Les obsessions et la psychasthenie. Paris 1911.
 
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