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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0220
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Psychologie der Weltanschauungen 127
3. Das Geliebte ist immer Individuum. Individuum ist ein anderer Ausdruck für das
absolut Konkrete. Die logische Kategorie des Individuums wird nur in der Bewegung
der Liebe erfüllt. Sonst immer gleichgültig ist das Individuum nur für den Liebenden
als Individuum und für alle anderen nur als zufällige Einzelheit, als ein Individuum
unter vielen. Für den Erkennenden ist es Fall, für den Handelnden Mittel, für den Hi-
storiker wertbezogen und konstruiert, für den Logiker endlos und darum unfaßbar.
Das empirische Individuum ist die Unendlichkeit, die vom Betrachtenden nie er-
schöpft werden kann. Das Individuum der Liebe ist eine ergriffene Unendlichkeit, die
als solche nie Gegenstand des Betrachtens oder Erkennens wird.
d) Liebe und Verstehen. Zwischen Menschen ist Liebe zugleich das, was vieldeutig
das vollkommene Verstehen heißt. An der Erfahrung ist kein Zweifel. Es ist, als ob ein Weg
zur absoluten individuellen Substanz gefunden sei, aber nicht zu ihr als zu einer iso-
lierten Monade, sondern als eingebettet in das Absolute überhaupt. Alles psychologi-
sche Verstehen begreift einzelne Zusammenhänge, stellt die Gesamtheit begriffener
Zusammenhänge in einer Konstruktion der Persönlichkeit gegenständlich vor uns hin.
Mag dieses Bild noch so reich, das Verstehen noch so vielseitig sein, es bleibt ein Ab-
grund zwischen diesem Verstehen, bei dem doch jeder Zusammenhang ein »allgemei-
ner« ist, und dem über all das hinausspringenden Verstehen der Totalität des Indivi-
duums. Diese Totalität ist nicht gegenständlich, wie Gegenstände des Erkennens. Sie
ist für das gegenständliche psychologische Verstehen nur »Idee«, | zu der in unendli-
chem Fortschritt das Verstehen sich hinbewegt. Das im subjektiven Erlebnis absolute
Verstehen hat nicht einmal notwendig Zusammenhang mit psychologischem Verste-
hen im gewöhnlichen Sinne. Es braucht sich nicht formulieren zu können, es kann
überhaupt das Eigentliche nicht mitteilen.
Wie die Liebe ist dies Verstehen kein ruhendes Verhalten, sondern Bewegung. Ist es
auch auf das Absolute gerichtet, so ist es doch in der empirischen Beziehung zwischen
Menschen - die ja überhaupt immerfort sich entwickeln - nur augenblicksweise als ru-
hend erlebt. Zwischen Menschen in der Zeit manifestiert es sich als ein liebendes
Kämpfen der Seelen miteinander.147 Jede Gefahr wird gewagt, keine Grenze der Form,
der Gewohnheit, der Rechte, der Grundsätze ist für immer respektiert, jede Distanz, so
sehr jedes menschliche Leben miteinander überall Distanzen errichtet und fordert,
wird irgendwann aufgehoben. Das Medium des Kämpfens ist nicht das Medium des
formulierbar Allgemeinen, der gültigen Objektivitäten - wenn diese auch oft als Sym-
bol, als vertretender Ausdruck dienen -, sondern das Allgemeine, das der »Geist« heißt.
Es ist ein Kämpfen, in dem gegenseitig rücksichtslos an die Wurzeln der Seele gegrif-
fen, alles in Frage gestellt wird, um zur absoluten Bejahung gerade dadurch zu kom-
men. Der Mensch allein kann sich selbst nicht so erfassen, sondern nur mit dem an-
deren, sich selbst im anderen; es ist ein Erfahrungsprozeß der Seelen voller Risiko (des
Bruchs, der äußersten Entfernung, der Täuschung und Selbsttäuschung, der leeren
Schwärmerei, der individualistischen Isolierung). Man weiß nicht, wohin das führt

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