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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0222
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Psychologie der Weltanschauungen

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Niveaus, was äußere Gewalt und was die Macht intellektueller und anderer Begabungs-
werkzeuge angeht, nur im geistig-seelischen Kampf kann das Ziel des Verstehens und
der Erfassung dessen, worauf es eigentlich ankommt, erreicht werden. Was Anwen-
dung von Gewalt angeht, ist das liebende Kämpfen absolut tolerant entgegen der In-
toleranz der Macht und der menschlichen Institutionen.
| Das liebende Verstehen, dies absolute Verstehen der Liebe wird immerfort ver- 127
wechselt mit anderen Verhaltungsweisen, wie z.B. dem psychologischen Verstehen
und dem Mitleid. Es liegt ein Sprung zwischen diesen Einstellungen, während die bloß
affektiven Phänomene, in denen sie erscheinen, durch Übergänge verbunden sind.
Dadurch wird die Verwechslung nahegelegt und es besteht die Tendenz, daß Liebe sich
in diese anscheinend verwandten Einstellungen umsetzt. Dieses Verwechselbare zählen
wir ausdrücklich auf:
1. Das schon gekennzeichnete psychologische Verstehen, das Nachfühlen, Begreifen
objektiviert den Menschen, macht ihn zu einem Gegenstand unter anderen, beraubt
ihn seiner absoluten Individualität, überhaupt jeglicher Absolutheit. Auch das gestei-
gertste psychologische Verstehen ist kein liebendes Verstehen. Darum sträubt sich der
Mensch im Bewußtsein der Substanz gegen das bloße psychologische Verstandenwer-
den, wenn damit irgendwie menschliche Beziehung verknüpft wird; er läßt es über
sich ergehen, weil es ihn im wesentlichen nicht angeht, weil gar nicht er gemeint ist.
Aber umgekehrt ist kein Zweifel, daß Liebe (und Haß) dieses psychologische Verstehen
in Bewegung setzen. Das liebende Verstehen manifestiert sich immer wieder darin, daß
irgendwelche verstehbaren Zusammenhänge objektiviert werden, die nun auch psy-
chologische Einsicht bedeuten. Ja, psychologisches Verstehen ohne Liebe und Haß
kommt nicht weit, kann nur reproduzieren, nicht neu sehen. Was psychologisch ge-
sagt, begrifflich gefaßt wird, ist selbst nicht mehr liebendes Verstehen und kann ohne
Liebe eingesehen werden. Aber in der Entstehung, in den Formen dessen, der es objek-
tiviert hat, hat es den Schimmer von Liebe oder Haß. Dieses Verstehen ist daher selbst
Medium für das liebende Kämpfen, aber etwas anderes, nicht dieses selbst.
Wo Liebe Gegenliebe wachruft (wozu immer die Tendenz ist), d.h. wo der Mensch
den Menschen als absolut und als eingebettet in das Absolute nimmt und rückwen-
dend dasselbe erfährt, da bedeutet alles Verstehen ein Lieben. Alles, was nach den
Wertgegensätzen gut oder schlecht, edel oder gemein, schön oder häßlich, richtig oder
falsch bewertet wird, wird in dem liebenden Kampfe gelegentlich erlaubt ohne Ein-
buße an Liebe. Denn der Zweck ist ja überall, die Bewegung zum Wertpositiven, die
Verkettung mit dem Absoluten zu suchen. Daher ist die Liebe grausam, rücksichtslos
und wird von echt Liebenden auch nur geglaubt, wenn sie so ist.
Darauf beruht es auch, daß in einer Einstellung der empirisch-egoistischen Triebe,
welche die Liebe gleichsetzt mit Erleichtern, Bequemermachen, Helfen im Egoisti-
schen, die verstehende Liebe sehr | unbequem, aufdringlich, angreifend empfunden 128
wird, daß sie für diese etwas Feindliches ist und bekämpft wird. Diese triebhaft-
 
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