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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0224
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Psychologie der Weltanschauungen 131
In der verstehenden Beziehung kann ich auf einen Menschen einen solchen Wert-
akzent legen, daß ich alles mir Wertvolle in ihn hineinsehe. Was Stendhal150 in der
Liebe die Kristallisation nennt,151 das Umkleiden der Geliebten mit allen Werten, ist,
sofern damit nicht jener Lichtstrahl vom Absoluten her gemeint ist, illusionär. Es ist
keine Liebe, sondern der einseitige Prozeß der Wertanhäufung, der eines Tages mit
dem Zusammenbruch dieses Kartenhauses endet. Diese Blindheit entspringt aus Be-
dürfnis, aus Trieben endlicher Art, sie ist passiv in ihrem Anhäufen, ohne Kampf, ohne
Bewegung. Die Liebe ist hellsichtig. Wer liebend sich so illusionär angesehen fühlt,
fühlt sich selbst nicht geliebt. Die illusionäre Umkleidung ist ein Feind der Liebe. Man
liebt den Menschen mit seinen Fehlern, in seiner Wirklichkeit, die im Absoluten lie-
gend gesehen und als Prozeß im Kampfe liebenden Verstehens erfahren wird. Man
liebt kein ruhendes, endgültiges Etwas, kein Ideal, kein Sein. Das fertige Verstehen, für
das ein Mensch gleichsam ein Götze geworden ist, dieses bewegungslose Verstehen ei-
nes scheinbar Ruhenden, immerfort so Daseienden ist kein liebendes Verstehen.
Es ist hier nicht der Ort, in extenso von der Geschlechtsliebe zu handeln. Es ist jedoch
eine Tatsache, daß wenn von Liebe gesprochen wird, seit Plato auch immer an Ge-
schlechtsliebe gedacht wird. Es ist Tatsache, daß die nächste Übereinstimmung der Ge-
schlechtsliebe und der Liebe überhaupt, und daß unversöhnliche Feindschaft beider
behauptet wurde. Darum ist es zweckmäßig, die hier liegenden Probleme zu formulie-
ren. Denn hier werden weltanschaulich entscheidende Einstellungen begriffen. Vor
allem ist es das Problem der Ausschließlichkeit in der Geschlechtsliebe, das einen welt-
anschaulichen Charakter hat.
In der Beziehung der Geschlechter kann man Sexualität, Erotik und »metaphysische«
Liebe trennen. Die Sexualität | ist ein psychophysisches Feld, sie ist nur vital, polygam,
nur Material, nicht Kraft einer Weltanschauung.
Die Erotik im engeren Sinne, die an sich mit Liebe nichts zu tun zu haben braucht,
hat in dem Rausche, in der Kristallisation aller Werte um den Geliebten, in dem
Schwünge etwas der Liebe Verwandtes. Aber - im reinen Typus der Erotik - ist das al-
les nur ein Aufschäumen von Bildern, die ebenso schnell wieder zerrinnen und vom
Erlebenden dann oft genug für Illusionen gehalten werden.
Die Erotik hat etwas Ausschließendes in ihrer eigenen Sphäre: nämlich im Augen-
blick des Erlebnisses des Zeitlosen, dann in Eifersucht das Verlangen nach ausschließ-
lichem Besitz mit den Motiven der Ehre, der männlichen Macht, der weiblichen
Herrschlust. Aber im Zeitverlauf ist auch die Erotik ihrem Wesen nach polygam. Jenes
schöpferische Feuerwerk wiederholt sich und vergeht. Geht das von beiden Seiten in
gleichem Rhythmus, so ist es vorbei. Wenn nicht, wird Eifersucht, Ehre und Macht in
Bewegung gesetzt und, wenn die bürgerliche Institution geworden ist, durch ein Sol-
len des Rechts und der Moral ein Ausschließliches hergestellt.

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