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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0238
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Psychologie der Weltanschauungen

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Sofern man Weltbilder psychologisch betrachtet, ist man also selbst abhängig vom
eigenen Weltbild, das doch allein den Maßstab, das Ganze abgibt, von dem die einzel-
nen Weltbilder Ausschnitte sind. Die psychologische Betrachtung entnimmt das wei-
teste der Zeit zugängliche Weltbild dem philosophischen Denken. Die philosophische
Arbeit in unserem Denken strebt danach, die Idee des absoluten Weltbildes zu verwirk-
lichen, indem sie nach dem Recht, nach der Geltung aller gegenständlichen Inhalte
fragt. Die psychologische Betrachtung schlägt den umgekehrten Weg ein. Während
die philosophische Einstellung unbeirrt ihren Blick in die eine Richtung der Geltung
wendet, sieht die psychologische das verschlungene Gewebe, das gleichsam zwischen
diesem Objektiven und der lebendigen Seele ausgebreitet ist. Dabei braucht die psy-
chologische Betrachtung die Frage, ob es ein solches allgemeingültiges Weltbild gibt,
weder zu stellen noch zu beantworten. Sie verfährt so, als ob es ein solches gäbe, in-
dem sie jeweils die äußersten, im philosophischen Denken erreichten Horizonte vor-
aussetzt. Würde es sich erweisen lassen - was nicht möglich scheint -, daß es ein sol-
ches geltendes Weltbild nicht gibt und nie geben kann, so würde die Psychologie nicht
aufhören genau so zu verfahren, indem sie die jeweils vermeintlich objektiven, gan-
zen Weltbilder, die Gesamtheit der Möglichkeiten als Idealtypus benutzt.
Es ist die eigene Psychologie des psychologischen Betrachters (die zugleich im psy-
chologischen Weltbild Gegenstand wird), die die Grenzen seiner Einsicht mit sich
bringt. Er strebt zwar zur äußersten Befreiung, muß sich aber sagen, daß er derselben
Notwendigkeit unterliegt, die er psychologisch beschreibt: in unvermeidlichen Kate-
gorien ein Weltbild zu haben, mit der unvermeidlichen, unwillkürlichen Selbstver-
ständlichkeit, den weitesten Horizont zu sehen. Vielleicht treibt er in seiner Bewegung
die Spannung zwischen anthropozentrischem Weltbild einerseits und dem Drang
nach einem objektiven Weltbild andererseits am weitesten, ohne jedoch selbst aus ihr
herauszukommen. Die Naivität, das eigene Weltbild für das Weltbild zu halten, kann
er wohl theoretisch, aber nur in geringem Maße auch lebendig überwinden. Immer
bleibt die Situation: Wie wir bei der sinnlichen Wahrnehmung inmitten des Horizon-
tes stehen, so erleben wir zunächst das Ich als Zentrum der Welt, als das tatsächlich
und der Wichtigkeit nach für uns Zentrale. Und für immer hat alles und jedes neben
den Beziehungen in sich, in einer fremden, objektiven Welt, auch seine besonderen
Beziehungen zum besonderen Ich, wenn es in dessen Weltbild assimiliert wird. Im ur-
sprünglichen, sinnlich-räumlichen Weltbild ist der eigene Ort der Mittelpunkt der
Welt; so ist das eigene Denken der absolute Maßstab, die eigenen Wertungen werden
als auf die absoluten Werte gerichtet behauptet und gefühlt, die eigenen Interessen
mit den objektiven, allgemeinen Interessen der Menschheit identifiziert. Statt einer
unbefangenen Weltkenntnis erreichen wir es doch immer nur, eine Welt durch mehr
oder weniger Brillen zu sehen. In diesem Kapitel soll jedoch noch nicht von den Ge-
häusen gesprochen werden, die in Wertungen, Interessen, Werthierarchien als Le-
bensanschauungen und Lebenslehren objektive Form gewinnen (darüber wird bei den

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