Psychologie der Weltanschauungen
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leerten führt, vielmehr kann auch umgekehrt - und tatsächlich überwiegend - von
dem bloß gewußten Weltbild aus ein Erweckungs- und Bildungsprozeß der Seele aus-
gehen. Das bloße Wissen wird Impuls und Basis für Erfahrung; was erst formal war,
wird erfüllt.
Alle diese Prozesse, die das Weltbild der Seele erfährt, kann man unter anderem Ge-
sichtspunkt auch Differenzierungsprozesse nennen. Unter diesen unterscheiden wir:
1. Den eben geschilderten unendlichen Prozeß, in welchem das seelische Leben,
indem etwas aus ihm, das erlebt schon da war, gegenständlich gewußt wird, selbst sich
wandelt, steigert, vermannigfaltigt.
2. Die Ausbreitung der Auffassungs- und Erfahrungsfähigkeit, des Erlebens, die au-
ßer durch jene Vermittlung des Bewußtseins auch gleichsam wachsend in die Breite
geht: neue Keime entstehen.
3. Die Differenzierungsprozesse schwanken zwischen den zwei Extremen: Auf der
einen Seite steht die Entfaltung eines gerichteten, geordneten Weltbildes, auf der ande-
ren Seite das Hervorsprudeln einer chaotischen Masse von Inhalten, die sich bloß ver-
mehren, ohne Totalität zu werden, die bloß als Menge da sind, ohne eines Steigerungs-
prozesses, einer Kraft fähig zu sein. In der Entwicklung ist das Streben nach Einheit
und Beziehung und das Streben nach Fülle zwar entgegengesetzt, aber in der Synthese
ist erst der eigentliche Differenzierungsprozeß möglich: Alle Gegenstände sind im
Ganzen des Gegenständlichen; durch die Beziehungen wird erst der Inhalt; die Kon-
trolle durch das Ganze und die Assimilation durch das Ganze bestimmen jeden ein-
zelnen Inhalt, und mit neuen Inhalten wird dies Ganze selbst neu und gewandelt. Das
Hin und Her zwischen dem Einzelnen, dem Individuellen und dem Ganzen, dem All-
gemeinen ist das Lebendige in dem Differenzierungsprozeß. So wird in zunehmender
Differenzierung das Weltbild als Ganzes entwickelt und die Auffassung jeden indivi-
duellen Gegenstandes bestimmt. Das Einzelne ist für die Seele anders, je nach dem to-
talen Weltbild, das sie hat. In verschiedenen Weltbildern sieht derselbe Gegenstand
anders aus, und mit dem Entwickeln unseres gesamten Weltbildes werden für uns auch
die individuellen Gegenstände ent|wickelt. Schleiermacher spricht es treffend aus:
»Je vollständiger man ein Individuum lieben und bilden kann, je mehr Harmonie fin-
det man in der Welt, je mehr man von der Organisation des Universums versteht, je
reicher, unendlicher und weltähnlicher wird uns jeder Gegenstand.«161
4. In allen Weltbildern können wir eine Reihe sich entfalten sehen vom unmittel-
baren Horizont individuell zentrierter Welt bis zur absoluten Unendlichkeit. Überall sind
wir zunächst in das sinnlich Greifbare unserer zufälligen Umgebung eingeschlossen
im Räumlichen, wie im Seelischen. Dann geschieht der erste Sprung hinter die Dinge.
Vergangenes, Erinnertes, Abwesendes, Zukünftiges schließen sich zum Weltbilde zu-
sammen, in dem das Gegenwärtige nur ein Ort ist, schließlich zu einem persönlichen
Ort wird, der für das Weltbild als allgemeines gleichgültig ist. Dann erfolgt der zweite
Sprung: zum Unendlichen. Das Weltbild hat in der Ausbreitung nirgends Grenzen; und
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leerten führt, vielmehr kann auch umgekehrt - und tatsächlich überwiegend - von
dem bloß gewußten Weltbild aus ein Erweckungs- und Bildungsprozeß der Seele aus-
gehen. Das bloße Wissen wird Impuls und Basis für Erfahrung; was erst formal war,
wird erfüllt.
Alle diese Prozesse, die das Weltbild der Seele erfährt, kann man unter anderem Ge-
sichtspunkt auch Differenzierungsprozesse nennen. Unter diesen unterscheiden wir:
1. Den eben geschilderten unendlichen Prozeß, in welchem das seelische Leben,
indem etwas aus ihm, das erlebt schon da war, gegenständlich gewußt wird, selbst sich
wandelt, steigert, vermannigfaltigt.
2. Die Ausbreitung der Auffassungs- und Erfahrungsfähigkeit, des Erlebens, die au-
ßer durch jene Vermittlung des Bewußtseins auch gleichsam wachsend in die Breite
geht: neue Keime entstehen.
3. Die Differenzierungsprozesse schwanken zwischen den zwei Extremen: Auf der
einen Seite steht die Entfaltung eines gerichteten, geordneten Weltbildes, auf der ande-
ren Seite das Hervorsprudeln einer chaotischen Masse von Inhalten, die sich bloß ver-
mehren, ohne Totalität zu werden, die bloß als Menge da sind, ohne eines Steigerungs-
prozesses, einer Kraft fähig zu sein. In der Entwicklung ist das Streben nach Einheit
und Beziehung und das Streben nach Fülle zwar entgegengesetzt, aber in der Synthese
ist erst der eigentliche Differenzierungsprozeß möglich: Alle Gegenstände sind im
Ganzen des Gegenständlichen; durch die Beziehungen wird erst der Inhalt; die Kon-
trolle durch das Ganze und die Assimilation durch das Ganze bestimmen jeden ein-
zelnen Inhalt, und mit neuen Inhalten wird dies Ganze selbst neu und gewandelt. Das
Hin und Her zwischen dem Einzelnen, dem Individuellen und dem Ganzen, dem All-
gemeinen ist das Lebendige in dem Differenzierungsprozeß. So wird in zunehmender
Differenzierung das Weltbild als Ganzes entwickelt und die Auffassung jeden indivi-
duellen Gegenstandes bestimmt. Das Einzelne ist für die Seele anders, je nach dem to-
talen Weltbild, das sie hat. In verschiedenen Weltbildern sieht derselbe Gegenstand
anders aus, und mit dem Entwickeln unseres gesamten Weltbildes werden für uns auch
die individuellen Gegenstände ent|wickelt. Schleiermacher spricht es treffend aus:
»Je vollständiger man ein Individuum lieben und bilden kann, je mehr Harmonie fin-
det man in der Welt, je mehr man von der Organisation des Universums versteht, je
reicher, unendlicher und weltähnlicher wird uns jeder Gegenstand.«161
4. In allen Weltbildern können wir eine Reihe sich entfalten sehen vom unmittel-
baren Horizont individuell zentrierter Welt bis zur absoluten Unendlichkeit. Überall sind
wir zunächst in das sinnlich Greifbare unserer zufälligen Umgebung eingeschlossen
im Räumlichen, wie im Seelischen. Dann geschieht der erste Sprung hinter die Dinge.
Vergangenes, Erinnertes, Abwesendes, Zukünftiges schließen sich zum Weltbilde zu-
sammen, in dem das Gegenwärtige nur ein Ort ist, schließlich zu einem persönlichen
Ort wird, der für das Weltbild als allgemeines gleichgültig ist. Dann erfolgt der zweite
Sprung: zum Unendlichen. Das Weltbild hat in der Ausbreitung nirgends Grenzen; und
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