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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0250
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Psychologie der Weltanschauungen

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Heute weiß fast jedermann von der Unendlichkeit der räumlichen Welt. Aber er-
lebnismäßig bleiben doch die drei Typen bestehen. Es kommt darauf an, welches der
Weltbilder den Menschen begleitet, in welchem er anschauend, stimmungsgemäß
lebt. Alle leben wir lange Zeiträume ganz im sinnlich Gegenwärtigen, manche entrin-
nen nie dieser Sphäre, sie erleben keine Welt, sie würdigen den Sternenhimmel nie ei-
nes Blicks, die großen geographischen und astronomischen Horizonte nie eines Ge-
dankens. - Einen ausgesprochenen Erlebnistypus gibt es gelegentlich: Man bemerkt,
daß ein Mensch immer bei aller Erhebung über die sinnlich-räumliche | Gegenwart
doch in dem begrenzten Kosmos der Griechen lebt, in dem allein er zu existieren ver-
mag. In nervöser Symptomatologie kann sich dieser verständliche Inhalt etwa zeigen
in Angst und Beklemmungsgefühlen angesichts des Himmels, im Vermeiden des Ster-
nenhimmels in der aktuellen Anschauung (weil das Wissen um die Unendlichkeit es
nicht mehr ermöglicht, den Sternenhimmel als begrenzte Sphärenharmonie zu se-
hen). Es entsteht gleichsam ein Weltschwindelgefühl, wo der Mensch seiner Natur
nach einen begrenzten Kosmos brauchte.
Den geschilderten drei Typen, dem unmitteibaren Weltbild, dem hinter dem Unmittel-
baren gesehenen begrenzten Kosmos und der räumlich-zeitlichen Unendlichkeit, stellen
wir eine andere, kreuzende Typenreihe des sinnlich-räumlichen Weltbildes gegenüber.
Das unmittelbare Weltbild ist als lebendiges im Erlebnis reich und farbig, voller Ge-
stalten und Formen, immer beseelt, bedeutungsvoll und interessenhaft, uns schädi-
gend und fördernd, zur Beherrschung auffordernd und als Schranke und Widerstand
hinzunehmen. Aus diesem unmittelbaren Erlebnis, in dem alle späteren im Keim zu-
sammen sind, entwickeln sich differenziert drei Weltbilder: Das naturmechanische, das
naturgeschichtliche und das naturmythische. In der Entwicklungsreihe entspringt aus
dem übergreifenden naturmythischen Weltbild das naturgeschichtliche, schließlich
das naturmechanische Weltbild. Von hier aus rückwärts geschieht erst die scharfe
Trennung und wissenschaftliche, reine Bearbeitung; diese ist für das naturmythische
Weltbild noch problematisch.
1. Das naturmechanische Weltbild wird nie direkt anschaulich gesehen, sondern in-
direkt durch Analyse und Abstraktion, durch Experiment und mathematische Rech-
nung gefunden. Es wird den Erscheinungen theoretisch etwas zugrunde liegend ge-
dacht, etwas, das als Materie, Energie, Atom, Elektron usw., als etwas möglichst bloß
Quantitatives übrigbleibt. Die Welt ist nur meßbare Bewegung und potentielle Bewe-
gung. Das Vehikel der Forschung ist Mathematik; und bloß soweit Mathematik anwend-
bar ist, kann ein mechanisches Weltbild entstehen. Alles Qualitative, eigentlich An-
schauliche, alles, was an sich wesenhaft erscheint, wird aus der Welt verdrängt. Die
Natur wird entqualifiziert und damit entseelt. Sie wird in exakte Gesetzesbegriffe gefaßt,
damit berechenbar und dadurch beherrschbar. In diesem Weltbild allein heißt es: Wir
erkennen alles nur so weit, als wir es machen können.170 Die Natur wird ein Werkzeug

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