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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0252
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Psychologie der Weltanschauungen

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gung dieser Fesseln der Endlichkeit, die das mechanische Weltbild anlegt - Fesseln, die
nur durch Relativierung des ganzen mechanischen Weltbildes im Weltbild überhaupt
lösbar waren -, scheint auch aus immanenten Eigenschaften des mechanischen Welt-
bildes gelungen zu sein. Die allgemeine Relativitätstheorie172 hat alles, was in diesem end-
lichen Weltbild absolut gesetzt war: Raumgrößen, Zeitstrecken, Maße relativiert. Die
Bedeutung dieser Sprengung ist, daß sie nicht eine bloß gedankliche ist, sondern daß
aus dieser Relativierung alles vermeintlich Absoluten sich theoretische Rechnungen
ergeben, die meßbare Phänomene (des Merkurumlaufs, gewisser physikalischer Expe-
rimente) erklären. Das mechanische Weltbild ist als faktisches Weltbild in sich selbst
in den Fluß geraten, der die Unendlichkeit ist. Die allgemeine Relativitätstheorie muß
nicht nur für die Physik fundamental - wie man hört - sein, sondern sie muß als Ab-
schluß des mechanischen Weltbildes diesem einen ganz anders gerichteten Einfluß
als bisher auf das Weltbewußtsein geben.
2. Das naturgeschichtliche Weltbild baut sich auf Anschauungen auf, die als Qualitä-
ten und Formen in ihrer sinnlich reichen Erscheinung genommen und zergliedert wer-
den. Die Natur wird in farbiger Mannigfaltigkeit gesehen. Die Zusammenhänge werden
als anschauliche, nicht als theoretische gesucht, als Typen, Gestalten, nicht als Gesetze.
In der Gestalt von Typen und Urphänomenen, aus denen die Mannigfaltigkeit entsprun-
gen gedacht werden kann, oder in denen sie als in den reinsten Gestalten gipfelt, wird
diese Welt zum geordneten Besitz gemacht. Die liebevolle Versenkung in die Einzel-
erscheinung, sei es Insekt, Kristall, Bergform, Wolke, das Festhalten am Sichtbaren,
Leibhaftigen, die sinnlich- anschauende Einstellung, der morphologische Sinn für
alles Gestaltete sind für dieses Weltbild charakteristisch. Alle Anschaulichkeit, auch
die Bewegung selbst als Anschauliches haben ihren Platz in diesem Weltbild.
3. Das naturmythische Weltbild drückt aus, was vom Standpunkt der beiden bisheri-
gen bloß Erlebnis, bloß seelenhaft, | symbolisch, nicht objektiv ist. Im Erleben selbst
aber ist diese Welt gegenständlich. Die Stimmung der Landschaft ist im Erlebnis selbst
phänomenologisch nicht bloß Stimmung des Subjekts, sondern das Subjekt sieht die
Stimmung im Gegenständlichen der Landschaft. Diese Welt, die ihre Gestalt vor al-
lem in Mythus und Dichtung gefunden hat, ist vom Standpunkt der Wirklichkeitsbe-
griffe des naturmechanischen und naturgeschichtlichen Weltbildes unwirklich. Sie
bedeutet nur eine unendlich verwickelte und nuancenreiche subjektive Reaktivität auf
Naturstimmungen, Naturformen, Natur Vorgänge. Ihren sprachlichen Ausdruck fin-
det diese Welt in Analogien und Symbolen, ihre gesteigerte Gestalt in Geistern und
Mythen. Wenn die Natur so ein beziehungsreiches Märchen wird, so erscheint darum
doch unendlich vieles in solchen Weltbildern keineswegs als bloß subjektiv willkür-
lich. Es ist eine Notwendigkeit mindestens unserer menschlichen seelischen Struktur,
die immer von neuem Ähnliches, Analoges aus den Erlebnissen schöpferisch als Bild
aus sich heraussetzt. Es ist eine ganz eigengesetzliche Sphäre, die in Naturmythen, in
der romantischen Naturdichtung, in vielen Philosophien als »real« behandelt wurde.

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