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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0265
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172

Psychologie der Weltanschauungen

nen, das, wenn es entsteht, schon überwunden ist. Es ist uns nicht gegeben, den Sinn und
Verlauf des Ganzen zu sehen und zu wissen. Nur Ausschnitte aus im ganzen unbekann-
ten Bahnen sind gegeben. Die neue Erfahrung im weiteren Gang des Lebens wird erst zei-
gen, was es mit dem Menschen auf sich hat. Nur wenig ist verwirklicht. Nur Andeutun-
gen sind es, was uns die Geschichte über die Möglichkeiten des Menschen lehrt, wenn
man auf die Unendlichkeit eingestellt ist, die noch vor uns liegt. Jeder, der sich lebendig
fühlt, ist sich bewußt, durch seine eigene Existenz mitzuwirken an dieser Zukunft, durch
sein eigenes Verhalten, seine Entschlüsse und Taten etwas Endgültiges zu entscheiden:
das Leben ist unendlich wichtig, weil durch dasselbe erst entschieden wird, was die Seele
sei. Das ist durch kein geschlossenes Gesamtbild vorweggenommen, sondern problema-
tisch, Aufgabe, Verantwortung und Erfahrung, die keinen Abschluß findet. Geschlossene
Bilder vom Menschen und seiner Geschichte appellieren an Gewohnheit, Regel, und ver-
176 anlassen, Verantwortung und Sinn abzuschieben | (wenngleich auch sie indirekt die
stärkste Aktivität provozieren können). Die Richtung auf das Unendliche des Verstehba-
ren appelliert an die lebendige Geistigkeit, ihre Initiative und Kraft (wenngleich sie indi-
rekt auch zu endloser Kontemplation unter Verlust eigenen Wesens verführen kann). Im
Weltbild unendlichen Verstehens liegen grenzenlos Erlebnismöglichkeiten und Kultu-
rinhalte vor dem Menschen. Er sieht die Begrenztheit und Relativität des eigenen Seelen-
und Kulturdaseins, sofern es objektive Gestalt hat (denn die Substanz des Lebens als sub-
jektive Kraft kann sich gerade bei diesem gegenständlichen Bilde unendlich der Potenz
nach fühlen). Gerade an den Grenzen des von ihm erreichten Verstehens sieht er erst recht
die Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten in unbestimmter Ferne. Um dieses Unendlich-
keitserlebnis im Verstehen herbeizuführen, besteht die Tendenz, sich gerade dem Frem-
desten und Fernsten versuchsweise zuzuwenden: den fremdesten Kulturen, den erstaun-
lichsten Menschen, dem Psychopathologischen. In der teilweisen Verständlichkeit, in
der teilweisen Übereinstimmung mit dem längst Bekannten und Selbsterfahrenen fühlt
er umso mehr das Ferne und Unendliche. Die Unendlichkeit des Verstehbaren tritt als
analog neben die Unendlichkeit im Räumlichen.
Damit wird ein historisches Weltbild möglich, das auf eine verengende historische
Anschauung des Ganzen verzichtet zugunsten einer anschaulichen Analyse aller ein-
zelnen Elemente unter der bloßen Idee der Ganzheiten (der Seele, der Persönlichkeit,
der Gesellschaft usw.). Es tritt im wissenschaftlichen Betrieb die exakte Differenzie-
rung der Fragestellung und die Abwendung von Allgemeinheiten ein. »Zeitalter«, »Völ-
ker«, früher als etwas selbstverständlich Einheitliches und Ganzes schemenhaft gese-
hen, werden jetzt unendlich zerlegt. Einzelne Zusammenhänge, wie ökonomische,
politische, religiöse, schließlich auch biologische werden gesehen, ohne die Tragweite
ihrer kausalen Bedeutung quantitativ abschätzen zu können. Soziale Gruppen, Kräfte
werden verstehend in Typen konstruiert, denen man keineswegs ohne weiteres empi-
rische Geltung zumißt, sondern sie nach Bedürfnis schafft und wieder fortwirft. Das
Weltbild selbst ist fließend geworden, wenn es auf das Unendliche eingestellt ist.
 
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