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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0266
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Psychologie der Weltanschauungen

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Alles Verstehbare wird instinktiv sogleich auch gewertet. Es hat als solches in sei-
nem Wesen Wertcharakter, während alles Naturmechanische ohne Wertakzent bleibt,
bloß als Mittel gewertet werden kann. Die Welt des Verstandenen ist zugleich eine Welt
von Werten. Die Grenzvorstellungen des verstandenen Weltbildes tragen diese Wer-
tung in eminentem Maße. In reiner Betrachtung vermag der | Mensch wohl die Wer- 177
tung hintanzuhalten. Aber immer ist die Wertung eine Wegbahnerin, um zur Betrach-
tung zu kommen, und immer stellt sie sich schnell wieder ein, wenn der Gegenstand
bloßer Betrachtung in das lebendige Empfinden aufgenommen wird.
Die Grenzvorstellungen sind mehrfacher Art: erstens die Vorstellungen von Kultur-
ganzheiten (Zeitalter und Völker) und zweitens die Vorstellungen von menschlichen
Persönlichkeiten. Zwar werden beide Vorstellungen immer dann aufgelöst, wenn das
Unendliche bewußt wird; dann verwandeln sie sich in Ideen, für die schematisch ver-
tretend eine Fülle anschaulich konstruierter, bestimmter Typen tritt, die aber als Ideen
in der Intention auf konkrete Kulturen und Persönlichkeiten lebendig gegenwärtig
sind. Die Grenzvorstellungen sind weltanschaulich das Charakteristischste. Wie der
Mensch Zeitalter und Kulturen sieht, und wie er Menschen sieht, kennzeichnet ihn. Über
diese Horizonte des Wirklichen im empirischen Sinn hinaus sieht der Mensch eine
mythische Welt; dem naturmythischen entspricht ein seelenmythisches Reich. - Zu
diesen drei Arten von Grenzvorstellungen: Kulturen, Persönlichkeiten und Seelen-
mythen, sei das Folgende eine etwas nähere Charakterisierung:
1. Kulturen. Dieselbe Zeit, dasselbe Volk wechselt in der Auffassung der Nachwelt,
z.B. Orient, Griechentum, Römertum, Byzantinismus, Mittelalter, Barock usw. Drei
Faktoren, die Masse des zugänglichen objektiven Materials, das Sehvermögen unserer
verstehenden Organe und die Bedürfnisse, Ideale, Sehnsüchten unserer Seele bestim-
men das Bild der Vergangenheit. Die Existenz und Zugänglichkeit des Materials liegt
außerhalb psychologischer Fragestellung. Das Sehvermögen ist an sich der Übung be-
dürftig, individuell der Anlage nach verschieden, quantitativ und den Richtungen
nach begrenzt. Die Tatsache seiner Unterschiede zeigt sich in groben Erscheinungen:
etwa der Verschiedenartigkeit der Nachahmung der Antike im Taufe der Jahrhunderte.
Eine entscheidende Kraft zur Beflügelung des Sehvermögens, sofern es vorhanden, ist
die Sehnsucht nach dem Ideal. Das eigene Ideal wird in der Vergangenheit verwirklicht
gesehen und zum eigenen Ideal die wirkliche Vergangenheit gesucht. Dies Sehen der
Ideale in Zeiten oder Völkern ist bestimmt von der Neigung des Menschen, in irdi-
schen, begrenzten Erscheinungen überhaupt ein absolutes Ideal als Maßstab und Vor-
bild zu besitzen, oder umgekehrt gehemmt durch die Neigung, alles Begrenzte nur als
Weg zum Ideal, nur als Fragment, als antinomisch-doppeldeutig zu sehen. Die ge-
schichtliche Welt erscheint typisch anders gewertet, je nachdem der Mensch
fort\schrittsgläubig ist oder die gute alte Zeit liebt. Der Fortschrittsgläubige steht immer 178
auf der Höhe, er sieht in der Vergangenheit nur Vorstufen, Vorahnungen seiner Lei-
stungen und Gedanken, und hat es jederzeit schon weit gebracht. Heiter sieht er in die
 
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