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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0267
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Psychologie der Weltanschauungen

Zukunft. Er sieht an der Gegenwart die positiven, großen, ihn befriedigenden Seiten.
Anders der Rückblickende: er sieht an der Gegenwart das Verzerrte, das Tiefstehende,
Barbarische, Unruhige und sucht in der Reaktion darauf das Gute in der Vergangen-
heit. Diese Einstellung ist zu allen Zeiten vorhanden gewesen:
Schon Homer spricht von den lebenden Menschen: oi'oi vvv ßporoi simv.188 Hesiod
kennt das goldene Zeitalter, die Bibel das Paradies. Die Spätantike hielt sich für herun-
tergekommen und liebte die klassische Zeit als Vorbild. Renaissance und Humanität
glaubten an die Antike als Ideal, die Romantik an das Mittelalter. Für Giordano
Bruno ist die gegenwärtige Zeit die schlechteste, für Fichte sein Zeitalter das der voll-
endeten Sündhaftigkeit. Am Ende des 19. Jahrhunderts kannte man die matte fin de
siecle-Stimmung.
In Europa sind Griechentum und Mittelalter, dann Orient, Indien, Römertum, in
den letzten Jahrzehnten fast jede Kultur einer Zeit zum Ideal erhoben und damit an-
schaulich je nach der leitenden Idee gesehen worden. Abwechselnd liebt man das Pri-
mitive oder das Überfeinerte, den philosophischen oder den rhetorischen Geist, das
Unmittelbare oder das Reflektierte, den Individualismus oder die Gebundenheit.
In Wechsel und Reichtum der Auffassungen, die ihm geworden sind, steht das Griechen-
tum voran. An diesem konkreten Beispiel läßt sich das Phänomen typisch veranschauli-
chen:
Schon die späten Griechen empfanden ihre eigene Vergangenheit als klassisch. Von ihnen
überkamen diese Einstellung die Römer und mit den Augen der Römer und Spätgriechen sah
die Renaissance das Griechentum: klassisch, einheitlich, vollendet, nachahmenswert. Eine ty-
pische Verschiedenheit ist in der romanischen und deutschen Auffassung der Antike zu bemer-
ken. Die Romanen sahen (zur Zeit der Renaissance in Italien und in Frankreich der späteren Jahr-
hunderte) eigentlich nur das Römertum. Cicero fand schon in einem Vergleich römischer und
griechischer Kultur die römische vielfach überlegen und die Romanen machten gar keine Un-
terscheidung mehr, nannten die Antike, meinten und fühlten das Römertum. Das Griechen-
tum als solches im Gegensatz zum Römertum wurde erst von den Deutschen des 18. Jahrhun-
derts gesehen und das Ideal des Griechen leuchtete über dieser Epoche klar, durchsichtig in
»edler Einfalt und stiller Größe«.189 Die Deutschen differenzierten dann diese ursprüngliche Auf-
fassung in historischen Studien und wertendem Erleben, so daß nach Überwindung eines ab-
soluten klassischen Ideals eine Fülle von Wertideen in einer ausgebreiteten, polarisch entzwei-
ten, reichen und widerspruchsvollen, nunmehr besser gekannten hellenischen Wirklichkeit
179 sich verankern können:| Burckhardts190 Liebe zur sittlichen Reinheit und Tüchtigkeit des ari-
stokratischen, agonalen und kolonialen Menschen der homerischen und nachhomerischen
Zeit, Nietzsches Sehnsucht nach dem tragischen Zeitalter der Griechen im 6. und 5. Jahrhun-
dert, die landläufige Verehrung des klassischen perikleischen Zeitalters, die Bewunderung für
die breite Entfaltung aller Kunst und aller philosophischen Gedanken im 4. Jahrhundert des
Plato und Aristoteles, des Praxiteles, Skopas und Lysippos,191 die Schätzung der großarti-
gen wissenschaftlichen Epoche des 3. Jahrhunderts, die Liebe zur spätantiken Religiosität und
Abstraktion. So kommt es, daß heute die heterogensten geistigen Tendenzen sich das »Griechi-
sche« zum Maßstab nehmen können und zum Ideal, auf das sie sich berufen.
 
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