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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0268
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Psychologie der Weltanschauungen

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2. Menschliche Persönlichkeiten. Ähnliche Grundformen des Menschensehens
kehren wieder: der eine sieht alle Menschen wesentlich gleich, das ist ihm wie selbst-
verständlich, und wenn er auch unter intellektuellem Einfluß das Gegenteil theore-
tisch behauptet: eigentlich findet er allen Unterschied nur im »bösen Willen« und in
der »Dummheit«, die Menschen danach unterschieden, ob an ihnen etwas »neu« und
»intelligent« ist. - Der zweite sieht die Verschiedenheit der Charaktere, aber in be-
stimmten Schemen, in die er alle Individuen mit Haut und Haaren einordnet wie
Pflanzen in Gattungen. - Dem dritten wird die Unendlichkeit jedes Individuums Er-
lebnis und dauernder Horizont für die wissende Analyse. Die Persönlichkeit wird ihm
Idee.
Die gewöhnliche Auffassung sieht in den Menschen Ideale oder Verworfene, eine
andere sieht die Mannigfaltigkeit des menschlichen Wesens ohne schon fixierte Vor-
urteile werthafter Art, frei dem Tatsächlichen zugewandt.
Eine Auffassung sieht nur Typen und Schemata, eine andere auch individuelle Per-
sönlichkeiten. Historische Gestalten können ohne Rücksicht auf ihre Wirklichkeit zu
Typen werden, als welche sie durch die Geschichte gehen, wie z.B. Alexander, Cäsar.
Die Auffassung drängt aber andererseits zur Wirklichkeit und die Realität der histori-
schen Persönlichkeiten wird für den Menschen als das eigentliche Reich der Geister
der letzte Horizont. Nirgends wird eine wirkliche Persönlichkeit absolutes Ideal, eine
jede bleibt unendlich im Wesen und wird nicht zum typischen Schema. Den Tenden-
zen zur Apotheose und abstrakten Idealisierung trotzend, findet der Mensch in dem
Kreise der großen Persönlichkeiten die einzige und die beglückende Realität des Gei-
stes und der Seelen. Wenn er auch in keinem zeitlichen Wesen das Absolute selbst zu
besitzen vermag, so sind doch diese Menschen ihm die gewisseste Garantie für das Ab-
solute, soweit diese Garantie überhaupt von außen und nicht von innen kommt. Sein
Weltbild der Seelen ist nicht durch die Gestalten olympischer Götter, nicht durch den
Kreis der Engel und Heiligen, | sondern durch diese persönlichen, unendlichen, selbst
überall noch problematischen Gestalten begrenzt. Seine Kontemplation endigt hier
in der nie vollendeten Anschauung der Persönlichkeiten.
3. Das seelenmythische Weltbild. In der Geschichte ist es das Seltene, daß die
menschlichen Persönlichkeiten den letzten anschaulichen Horizont bilden. Vielmehr
wird dieser Horizont Übergriffen durch eine Welt mythischer Vorstellungen von den
Seelen, in welche die menschliche Seele mit aufgenommen wird. Die typischen Gestal-
ten, die zuweilen aus wirklichen Persönlichkeiten durch eine Apotheose gewonnen wer-
den, sind zugleich in Dämonen, Göttern, in Engeln und Heiligen vorgestellt. Diese Welt
ist phantastisch und zugleich konstruktiv klar und durchsichtig. Diese Gestalten ha-
ben oft eine viel weniger problematische Psychologie in sich als wirkliche Menschen,
denn sie sind von vornherein als Typen gesehen und »notwendig« konstruiert. Wie alles
Seelische, wird auch diese Welt im Sinnlich-Räumlichen immanent. Das naturmythische
Weltbild ist zugleich der Schauplatz dieser seelenmythischen Welt.

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