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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0269
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Psychologie der Weltanschauungen

In sublimierter Form wird das seelenmythische Reich denkend konstruiert. Aus
Plotin sei ein Beispiel angeführt: die menschliche Einzelseele wird kontrastiert zur
Weltseele, zu den Gestirnseelen, der Erdseele, den Tierseelen. Der Vergleich von Welt-
seele und Einzelseele ergibt etwa folgendes Bild: die Weltseele ist schöpferisch, die Ein-
zelseele nicht. In der Weltseele stehen alle Kräfte in Harmonie, in der Einzelseele fin-
det sich Gebrochenheit und Halbheit. Die Weltseele besitzt kein Gedächtnis und hat
keine Reflexion, denn sie lebt nicht in der Zeit. Der Mensch in seinem zeitlichen Da-
sein ist auf Gedächtnis und Reflexion angewiesen, aber die Weltseele lebt in zeitloser
Erkenntnis, die sie nicht von außen gewinnt, sondern durch ihre Natur selbst hat.192
Man könnte solche Konstruktionen fruchtbar auch für die Anschauung des wirk-
lichen Menschen finden. An solchen Konstruktionen gemessen wird die Art unseres
Seelenlebens erst recht präzisiert; wie etwa Kant das Wesen unseres Verstandes durch
Kontrastierung zu einem konstruierten »intellectus archetypus«, einem »anschauen-
den Verstand« kennzeichnet.193 Bei Plotin besteht der Meinung nach keine Konstruk-
tion, sondern eine Wirklichkeit, die wir mythisch nennen. Eine ganze Welt solcher
mythischer Geister und Seelen ist denkbar; sie entsteht, wenn man einzelne Eigen-
schaften unserer Seele (des Intellekts oder des Charakters) fortfallen läßt oder indem
man Leistungen annimmt, zu denen wir nicht fähig sind, oder indem man Eigenschaf-
181 ten unserer Seele, die wir in Hemmung und | Beziehung zu anderen Eigenschaften ha-
ben, verabsolutiert und grenzenlos entwickelt denkt.
Jedoch ist die seelenmythische Welt nicht etwa ursprünglich ausgedacht (diese
gedanklichen Konstruktionen sind vielmehr ihr letztes Produkt). Sie ist erlebt, wie
das Naturmythische, erlebt in Bedeutungen, in Beziehungen, in all den Stimmungen
und Erfahrungen, die man heute einfach »ästhetisch« nennt. Die innersten Erfah-
rungen der Selbstreflexion finden eine mythische Projektion, das Gewissen, das Un-
bewußte, der Kampf der Motive, die Weisen der Selbstüberlistung und Selbsttäu-
schung. So wird unsere eigene Seele ein mythisches Wesen und von mythischen
Wesen wie Doppelgängern, beschützenden Dämonen, Verführungen des Teufels um-
geben. Die Seele hat eine mythische Geschichte, die den jetzigen Zustand begreiflich
macht, z.B. hat sie eine übersinnliche Heimat, ist aus dieser durch Frevel, durch toll-
kühnen Hochmut, Werdelust und das Verlangen, sich selbst anzugehören, gefallen
(Plotin V, i, 1).194 Hier in dieser Welt vergißt die Seele ihren Ursprung, vermag sich
aber durch Erinnerung wieder zu erheben. Solche mythische Geschichte ist keines-
wegs nur intellektuell erdacht, sie findet vielmehr, wenn nicht ihren Beweis, doch
ihre Quelle in Erlebnissen, welche in dieser Welt gegeben sind. Plotin beschreibt es
z.B. (IV, 8, 1): »Oft, wenn ich aus dem Schlummer des Leibes zu mir selbst erwache
und aus der Außenwelt heraustretend bei mir selber Einkehr halte, schaue ich eine
wundersame Schönheit: ich glaube dann am festesten an meine Zugehörigkeit zu ei-
ner besseren und höheren Welt, wirke kräftig in mir das herrlichste Leben und bin
mit der Gottheit eins geworden ...« -
 
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