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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0270
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Psychologie der Weltanschauungen

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Jede der drei Grenzvorstellungen des Geistigen und Seelischen kann sich verabso-
lutieren. Wird die Vorstellung der Kulturkreise, der Folge des Geistes der Zeiten herr-
schend, so verschwinden die Individuen; die Persönlichkeit ist nur Symptom, getra-
gen, gewirkt, aber selbst nur Werkzeug. Eine grandiose historische Perspektive läßt den
einzelnen Menschen nicht mehr zur Geltung kommen. - Wird die Vorstellung von
Persönlichkeiten das letzte, so bekommt der Mensch leicht den Charakter eines Göttli-
chen, da er verabsolutiert ist. Seine Maße wachsen über ihn selbst hinaus. - Wenn
schließlich das Seelenmythische die Vorstellungen beherrscht, so erfährt der Mensch
sich auf Schritt und Tritt von Dämonen umgeben. Alles hat unheimliche Bedeutun-
gen, er selbst wird sich Träger eines unerfaßten Sinnes in vorzeitlichen und übersinn-
lichen Beziehungen.
Alle diese Verabsolutierungen sind Arten metaphysischen Weltbildes und gewin-
nen erst in ihm Bestimmtheit und Ausbreitung.
| Das Wissen von der Mannigfaltigkeit menschlicher Möglichkeiten, das Verstehen
des Fremden, das Wissen von den Welten des objektiven Geistes, dieser ungeheuren,
das Widersprechendste umfassenden Welt des Geschaffenen, übt vermöge der engen
Verknüpfung von Verstehen und Werten einen Druck aus: das Vergleichen macht das
eigene Dasein problematisch und nimmt die Sicherheit des instinktiven Wollens; das
Gewaltige zwingt zur inneren Unterwerfung und zur Befriedigung im bloßen verste-
henden Anschauen und Nachahmen. Wird aus solchen Tendenzen das historische
und psychologische Weltbild schließlich verabsolutiert, so spricht man von Historis-
mus und Psychologismus. Der dieser Verabsolutierung verfallende Mensch ist zu cha-
rakterisieren: Statt sich auseinanderzusetzen, versteht er. Statt zu wählen, zu bejahen
oder zu bekämpfen, erkennt er alles Wirksame bloß darum an, weil es da war und wirk-
sam war. Die Darstellung der Entwicklung einer Sache ist ihm identisch mit Kritik.
Statt z.B. ein philosophisches System zu bekämpfen, oder durch ein anderes zu erset-
zen oder sich ihm zu unterwerfen, fragt er bloß, wie es geworden ist und erfreut sich
dieses Systems wie aller anderen, es bejahend, ohne daraus Verbindlichkeiten für sich
herzuleiten. Durch die Verabsolutierung des Verstehens wird der Mensch zuletzt sei-
ner persönlichen Existenz beraubt. Ihm ist alles und darum nichts wichtig. Die Ge-
schichte und das grenzenlose Verstehen dient ihm entweder dazu, alles Gewordene zu
rechtfertigen oder umgekehrt: sie zeigt ihm gleichsam den Weg des Teufels, der mit je-
dem Schritt der Geschichte das Wertvolle zerstört; dann dient ihm die Geschichte
dazu, alles zu verneinen; denn weil er alles versteht, sieht er überall das Negative, das
Böse als mitwirkenden Faktor. So wird der Mensch der Kraft des eigenen Lebens be-
raubt, und es bleibt ihm allgemeine Begeisterung und allgemeines Verneinen oder bei-
des durcheinander, jedenfalls ein passives Zusehen und ein bloß reaktives Wertgefühl.
Ihm verschwindet das Bewußtsein der Gegenwart, des Sinnes und der unendlichen
Wichtigkeit des augenblicklichen Daseins, das Bewußtsein der Entscheidung, der Ver-
antwortung, mit einem Wort der lebendigen Existenz.

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