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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0271
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178

Psychologie der Weltanschauungen

Diese Schematisierung des Historismus erfordert weiteres Unterscheiden. Die Ver-
absolutierung kann zwei Richtungen nehmen: erstens die Verabsolutierung des unend-
lichen Verstehens zum Lebensinhalt, zweitens die Verabsolutierung bestimmter, fixierter, be-
grenzter historischer und psychologischer Auffassungen.
Es ist unvermeidlich, daß das Verstehen des Möglichen grenzenlos wird; eine un-
183 endliche Dialektik entfaltet sich; Entgegengesetztes | ist gleich verständlich; alles Echte
ist noch wieder in Frage zu stellen; nirgends ist eine endgültige Fixation möglich. Wird
diese Entwicklung, die objektiv, eigengesetzlich bedingt ist, in der Weise herrschend,
daß dadurch das Wollen und Werten verhindert wird, so entsteht ein Nihilismus, der
leicht als Gegenwirkung die Forderung eines begrenzten Weltbildes, einer notwendi-
gen Borniertheit, einer gewalttätigen Unterbrechung der unendlichen Reflexion aus-
löst. So sieht Nietzsche, daß der Mensch entweder in dem unendlichen Verstehen
sein Leben verlieren müsse, oder wenn er lebe, einer Illusion oder eines fälschlich ein-
geschränkten Horizontes bedürfe.195 Als dritte Möglichkeit besteht jedoch: daß der
Mensch das Weltbild unendlichen Verstehens und grenzenlosen Wahrheitwollens be-
sitzt, daß ihm diese fließende Welt nicht verabsolutiert, sondern Medium wird, in dem
gerade seine eigenen Kräfte und Impulse mit umso größerer Sicherheit ganz konkret
und echt, ohne Verlust seiner Persönlichkeit an das bloß Allgemeine, gedeihen. Das
grenzenlose Erkennen kann Mittel bleiben und das Entweder-Oder Nietzsches be-
steht nicht als psychologisch notwendig.
Die zweite Verabsolutierung ist die begrenzter historischer Weltbilder, die be-
stimmte, fixierte Formeln für die Art menschlichen Handelns und Lebens als endgül-
tig behaupten (z.B. über den Charakter des Menschen, über historische Gesetze von
Aufstieg und Verfall usw.). Diese Verabsolutierung wirkt lähmend, weil darin die Er-
kenntnis etwas Abgeschlossenes und dadurch Vernichtendes hat, das übrigens ihrem
eigenen Wesen nicht gemäß ist. Für die reine Erkenntnis bleibt immer die Problema-
tik und das Fragen und die Unmöglichkeit, den konkreten Fall restlos zu durch-
schauen; darum bleibt das Individuelle immer zugleich außerhalb des Erkennbaren
dem lebendigen Entschlüsse unterworfen. Die unendliche Reflexion appelliert an den
lebendigen Akt, den sie nicht vorwegnehmen und nicht erschöpfen kann, die abge-
schlossene Erkenntnis gibt feste Formeln und vergewaltigt durch sie das Konkrete.
Während aber die Verabsolutierung des unendlichen Verstehens zum Nihilismus
führt, führt die Verabsolutierung fixierter, historischer Auffassungen zu einem Leben,
das in Erhaltung des Bestehenden, weil es so einmal historisch geworden ist, aufgeht.
Jener Nihilist versinkt in Passivität: ihm tritt an Stelle des Lebens das Anschauen der
Weltgeschichte, an Stelle des konkreten Handelns in augenblicklicher Situation das
Reden in großen welthistorischen Perspektiven. Der Bornierte aber vermag dieses zu
tun und verharrt doch zugleich in den Gewohnheiten des Bestehenden, für die er ihn
befriedigende Rechtfertigung gefunden hat. -
 
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