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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0278
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Psychologie der Weltanschauungen

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chen existieren nicht. Die dämonischen Kräfte sind einfach da und für den Primitiven
das Wirkliche, das Absolute, wenn man diese aus einer differenzierten Begriffsbildung
stammenden Worte mit aller Einschränkung auf diese fremden und frühen Zustände
überträgt.
Diese Welt gestaltet sich zu einer Mythologie aus. Das mythologische Weltbild wird
mehr oder weniger geschlossen, zusammenhängend, wenn auch nach logischen Ge-
sichtspunkten nie ganz klar, nie widerspruchsfrei. Es hat seine plastische Gestalt in der
griechischen Götterlehre gefunden, die uns eine Welt stufenweiser Ordnung zeigen
mit Inhalten, die tiefsinnigsten Deutungen zugänglich sind, mit Anschauungen, die
uns unmittelbar ergreifen. Mag der Gehalt hier auch unendlich überlegen sein, die Art
des Weltbildes ist, dem Werte für uns nach betrachtet, ein Gipfel, der aus der univer-
salen Mythologie aller Völker herausgewachsen ist.
Das Charakteristische des mythologischen Weltbildes ist: es wird nicht ein Gedanke
geschaut und entwickelt, nicht ein Begriff in gedanklichen und anschaulichen Bezie-
hungen begründet, sondern es wird eine Geschichte erzählt (die durch Tradition über-
kommen oder als selbstverständlich offenbart ist, jedenfalls keine Begründung zuläßt
oder auch nur fordert; die Frage nach Begründung wird zunächst gar nicht gestellt).
Man lebt darin, man fragt nicht gedanklich, sondern man fragt nach weiteren An-
schaulichkeiten und Wirklichkeiten, die der Wissende mitteilt. Geschichte von Ent-
stehung der Welt und der Götter (Theogonien und Kosmogonien), vom Ablauf des
Weltprozesses bis zu den letzten Dingen (Weltgericht, Eschatologien), Geschichte des
Lebens, der Herkunft, der Schicksale von Göttern und Göttinnen und von Dämonen,
Genealogien bilden den anschaulichen Hintergrund der augenblicklichen Konkret-
heit; Regeln und Riten, eine Lehre magischer Wirkungen bilden das Mittel des Eingrei-
fens für den Menschen, sofern er hier nicht bloß betrachtet, sondern sich auch aktiv
verhält.
Die anschaulichen Geschichten und Gestalten bilden eine Mannigfaltigkeit, die von
den tiefsinnigen Gebilden, die von der modernen Welt als »Kunst« genossen werden,
bis zu platten pseudo-1naturwissenschaftlichen Märchenerzählungen theosophischer
Observanz in unserer Zeit sich ausbreitet; die echt als Wirklichkeit Erlebtes und un-
echt als Spiel Erzeugtes und als Sensation Benutztes umfaßt.
Wenn einmal in der Differenzierung der Gestalten des Geistes das nachher zu cha-
rakterisierende philosophische Weltbild entstanden ist, so tritt auch mehr oder weni-
ger bewußt an das Mythologische die Frage einer Begründung. Wenn diese Frage auch
wohl nie primär, sondern defensiv ist, so wird sie doch schon früh ein integrierender
Faktor des mythischen Bildens. Unwillkürlich beruft sich der Mensch auf etwas. So-
fern das nicht einfach Autorität, Tradition, Urväterweisheit ist, kommt dieses Weltbild
immer auf spezifische Erfahrungsquellen, die nicht jedermann und nicht jederzeit zu-
gänglich sind. Es sind besondere Arten des inneren Sehvermögens, besondere Bewußt-
seinszustände. Darum auch der Weg, um zu diesem Weltbild zu kommen, darin gip-

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