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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0280
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Psychologie der Weltanschauungen

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Wahrheit sei doch nicht halb so allgemein als die Sucht nach Neuem und Erstaunlichem, ver-
bunden mit dem Wunsche Eindruck zu machen und bewundert zu werden. »Denn welches grö-
ßere Vergnügen gibt es für den Menschen ... als die Lust, seltsame und unglaubliche Dinge zu
hören und zu erzählen. Welch eine wunderbare Sache ist der Hang zum Wunderbaren und Wun-
der zu erregen.«
In echtester, sublimiertester, gar nichts Spezifisches als Erfahrungsquelle verlan-
gender, an den Menschen überhaupt appellierender Weise hat im Gegensatz zu die-
sen halbechten Gestalten Goethe das Dämonische in seinem Weltbild festgehalten.
Das Dämonische ist ihm ein Positives, Schaffendes (Mephistopheles ist nicht dämo-
nisch, weil er nur negativ ist); es ist fühlbar anläßlich des Antinomischen, nach ge-
wöhnlicher Auffassung Zufälligen, fühlbar im Unbewußten, fühlbar in der »Konstel-
lation«. Es ist unberechenbar, nur geahnt, nicht begriffen. Es ist nicht zu analysieren,
aber übermächtig. Es ist nicht selbst anschaulich, sondern nur in seinen Manifestatio-
nen. Es steckt im Menschen, in der Anlage und auch im Schicksal, oder vielmehr in
beiden zugleich: Im Schicksal und der Individualität als einer Verbundenheit. Es ist
nicht das Grausliche, sondern es steckt in den Erschütterungen der tiefgreifendsten
Realitäten unseres Daseins, es ist nicht eine wunderliche Welt neben der | normalen, 194
sondern es ist eine Kraft, die zu den bewegenden Faktoren allen Daseins gehört.
Stellen wir zusammen, was Goethe darüber sporadisch gesagt hat, um dies Weltbild in sei-
ner Ganzheit zu sehen. Die berühmte Gesamtschilderung des Dämonischen findet sich in Dich-
tung und Wahrheit1):203 Es ist etwas, das sich nur in Widersprüchen bewegt und deshalb unter
keinen Begriff, viel weniger unter ein Wort gefaßt werden kann. »Es war nicht göttlich, denn es
schien unvernünftig; nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand; nicht teuflisch, denn
es war wohltätig; nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall,
denn es bewies keine Folge; es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Al-
les was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar; es schien mit den notwendigen Ele-
menten204 willkürlich zu schalten; es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im
Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen.
Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien,
nannte ich dämonisch, nach dem Beispiel der Alten.
Obgleich jenes Dämonische sich in allem Körperlichen und Unkörperlichen manifestieren
kann, ja bei den Tieren sich auf das Merkwürdigste ausspricht, so steht es vorzüglich mit dem
Menschen im wunderbarsten Zusammenhang und bildet eine der moralischen Weltordnung
wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für den Zet-
tel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen.
Für die Phänomene, welche hierdurch hervorgebracht werden, gibt es unzählige Namen:
Denn alle Philosophien und Religionen haben prosaisch und poetisch dieses Rätsel zu lösen und
die Sache schließlich abzutun versucht, welches ihnen auch fernerhin unbenommen bleibe.
Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgendeinem Menschen
überwiegend hervortritt... Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist,

Cottasche Jubiläumsausgabe 25, i24ff.
 
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