Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0288
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Psychologie der Weltanschauungen

195

chen Natur, welches die negative Theologie nie dauernd überwindet. Daher treten im-
mer wieder die großen philosophischen Bildungen auf, die nur die Gipfel dessen sind,
worin die Menschen faktisch als in ihrem Weltbild mehr oder weniger leben - auch
meist dann, wenn sie sich die negativ-theologischen Formeln und Einsichten zu eigen
gemacht haben.
| Diese großen philosophischen Weltbilder, wie sie von Platon, Plotin, vom Mit- 202
telalter, von Hegel gelehrt werden, sind alles zugleich: Sie haben mythisch-dämoni-
sche Elemente, haben die Verabsolutierungen, den Panlogismus und haben als ein Ele-
ment auch die negative Theologie. Diese Weltbilder sind Totalitäten. In solchem
Weltbild zu leben, ist die jeweils höchste Bildung Voraussetzung. Alle Einsicht, daß es
so nicht »richtig« ist, hindert nicht, daß diese Weltbilder, auch die vergangenen, den
Menschen immer wieder ergreifen. Man hat sie als Begriffsdichtungen (Lange),254 als
Gebilde zwischen Kunst und Wissenschaft (Schopenhauer)255 bezeichnet.
Es sind diese Weltbilder gegenständliche Projektionen geistiger Kräfte und sind der
menschlichen Seele unvermeidlich. Innerhalb der Subjekt-Objektspaltung ist nur die
Wahl, wie die gegenständliche Projektion ist, ob als sinnliche Mythologie, als Verab-
solutierung des Konkreten oder der Formen, ob als Symbol der Kunst (in isolierender
Einstellung), ob als Realsymbol der spekulativen Weltbilder. Die gegenständlichen In-
halte dieser Weltbilder in ihren entwickeltsten Formen sind nicht etwa für den Men-
schen nur Symbole - das werden sie für uns, die wir romantisch-ästhetisch sie genie-
ßen oder unecht aus ihnen uns eine Sensation machen -, vielmehr haben sie für den
Menschen die Kraft von Realitäten. Da aber diese spekulativen Weltbilder nur als Ganz-
heiten, nicht in einzelnen Teilen ihren Sinn haben, so kommt es, daß einmal ihre Rea-
lität nicht ohne weiteres mit der alltäglichen konkret-sinnlichen Realität auf eine Stufe
zu stellen ist (die letztere ist »weniger« Realität, aber greifbarere), daß dann ferner im-
merfort an jedes faktische Auftreten solcher Weltbilder sich Gestalten anschließen,
die einzelnes herausgreifen, isolieren, und in die besonderen Formen des Mythischen,
Dämonologischen, Verabsolutierenden geraten.
Die Inhalte der mythisch-spekulativen Weltbilder stehen zwischen zwei Polen: Das
Absolute wird entweder als ein zeitloses, ewiges Wesen von Ideen, Gesetzen, Formen ge-
sehen oder als ein einmaliger übersinnlich historischer Prozeß. Je mehr das zeitlose Sein von
Formen oder Ideen im Sinne Platos hervortritt, desto mehr wird das Bild ein rein be-
griffliches, von aller mythischen Anschaulichkeit befreites. Ideen, im Mittelalter die for-
mae substantiales,256 werden zwar zu hypostasierten Wesenheiten, und das Begriffliche
wird insofern zugleich mythisch, wie bei Platon die Ideen zunächst Allgemeinbegriffe,
dann aber das Absolute als ein Objektives, Existierendes sind. Je mehr das Absolute als
ein Werden, als ein einmaliger Prozeß mit seinen Gefahren, seinen Schöpfungsakten,
seinen unwiderruflichen Entscheidungen, seiner Freiheit im Gegen | satz zur Notwendig- 2 03
keit des Zeitlosen und Allgemeinen gesehen wird, desto mehr tritt die mythische An-
schaulichkeit unvermeidlich hervor. Bei Plato treten Mythen da auf, wo die Welt des
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften