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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0290
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Psychologie der Weltanschauungen

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Die Gefahr ist nicht gering, in die überkommenen Reste zuviel hineinzudeuten,
aus ihnen zuviel herauszulesen. Historische Wahrheit kann solche Typisierung nicht
völlig beanspruchen. Darauf kommt es in diesem Falle auch nicht so sehr an, falls es
gelingt, die Typen anschaulich zu machen und in jener ehrwürdigen Zeit zu veran-
kern. Es soll hier keine historische Forschung versucht werden. Nur auf das Anschau-
lichwerden der Typen kommt es an.
Der einzelne Philosoph - zumal dieser Zeiten - lehrt nicht nur ein Weltbild zu se-
hen, er gibt Einzellehren aus den Wissenschaften, gibt Züge des kosmischen und hi-
storischen Weltbildes, gibt Lebensgrundsätze und den Sinn des Daseins. In der gegen-
wärtigen Abstraktion nehmen wir vor allem das philosophische Weltbild heraus.
Dieses muß seine anschaulichen Materialien, wie ausgeführt wurde, aus den ande-
ren Welten, der räumlichen oder der seelischen nehmen, aus ethischen, ästhetischen,
religiösen Erlebnissen, aus einzelnen Wissenschaftsgebieten; darauf baut sich aber dann
ein eigenes, analogerweise anschaulich zu nennendes Leben der Begriffe. Das Ganze der
Welt sieht der eine als Chaos, der andere als Maschine, als vergänglichen Schein, als
Kunstwerk und Spiel, als Abfall und Buße unseliger Individualisierung, als gesetzmäßige
Ordnung (Kosmos), als zeitlos immer Gleiches oder als gewaltigen Prozeß.
Während so viele Philosophen einen festen rationalen Standpunkt haben, das Ab-
solute rational fassen und im Gegensatz zu anderen falschen Möglichkeiten als das
»Richtige« denken, entwickelt sich gerade aus dem Kampf der entstandenen Weltbil-
der in Skeptizismus und Relativismus die Möglichkeit der unendlichen Reflexion, die
zwar einerseits bloß dialektisches Medium beliebigen Denkens, andererseits aber das
Medium persönlicher Existenz ohne ein rational fixiertes Absolutes wird. Es entstehen
die eklektischen philosophischen Mischcharaktere, aber es werden durch die Ausbil-
dung der unendlichen Reflexion auch die erst existentiellen Persönlichkeiten | mög-
lich, die Freiheit erfahren trotz der Bindung durch die Fülle des Allgemeinen. Diese
letzten haben kein philosophisches Weltbild mehr, weil jedes Entstehende sofort wie-
der eingeschmolzen wird. Die folgende Typisierung der Denkungsarten scheidet diese
letzte Möglichkeit, welche durch sie alle zwar fundiert wird, aber kein charakteristi-
sches Weltbild mehr mit sich bringt, aus').259
Am Anfang der griechischen Philosophie und damit der abendländischen Philosophie über-
haupt steht Thales von Milet. Wir wissen von ihm wesentlich nur, daß er lehrte: Alles ist Was-
ser. Fragen wir, was solch ein Satz für das Weltbild sagt, so dürfen wir behaupten, es sei darin der
Sprung vom mythologischen zum philosophischen Weltbild getan. Für Thales, den vielgerei-
sten Kaufmann einer großen Handelsstadt, stand das Wasser vielleicht als das Umfassendste und
Bedeutendste im sinnlich-räumlichen Weltbild. Man versteht es, wie der philosophische Drang

Die folgende Darstellung beruht hauptsächlich auf folgenden Quellen: Diels, Fragmente der Vor-
sokratiker. - Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. - Die zitierten Frag-
mente sind mit der Ziffer der Dielsschen Sammlung versehen.

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