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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0292
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Psychologie der Weltanschauungen

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Ursprung nach freieren philosophischen Weltbildes vergleicht; z.B. vermochten im 19. Jahr-
hundert fromme Katholiken wie Mendel und Wasmann262 naturwissenschaftliche Entdeckun-
gen zu machen, auf welche die im naturmechanischen Weltbild Lebenden nicht gekommen
waren. Das philosophische Interesse, das an sich doch immer begrenzt ist, und die daraus flie-
ßende vorwegnehmende Konstruktion hat auch eine verengende Kraft. So ist noch Heraklit
naturwissenschaftlich einsichtslos im Vergleich zu den Pythagoreern. Die Pythagoreer hatten
wohl ein verwickeltes, nicht absolut geschlossenes, uneinheitliches Weltbild und darum die
Freiheit im Einzelnen für manche günstig gelagerte Fälle. Das rein philosophische Weltbild hat
die größere Einheit im Ganzen, die Geschlossenheit, dafür aber auch wohl ärmeren Gehalt. Die
Pythagoreer waren eine Masse von schulmäßig Denkenden, die Philosophen aber waren die ori-
ginal denkenden eindrucksvollen Persönlichkeiten auf eigene Verantwortung.
Dieser Typus des Denkens, wie er auch das Mittelalter beherrscht, steht außerhalb der jetzt zu
charakterisierenden philosophischen Denkungsarten. Es war eine Abschweifung, von der wir
nun zurückkehren zu den Gestalten des schauenden, des substantiell denkenden und des leer
denkenden Kopfes. Es ist natürlich schematisierende Willkür, einen Philosophen gleichsam mit
Haut und Haaren einem Typus zu subsumieren und einzelne seiner Züge in Kontrastierung noch
karikierend zu übertreiben. Bei genauerer Betrachtung würde wohl jeder Persönlichkeit von je-
dem Typus etwas zu eigen sein. Wo wir aber hier nicht historische Studien treiben, dürfen wir
hervorstechende Merkmale verwenden, um uns allgemeine Typen zu veranschaulichen.
| Die Milesier und Pythagoreer waren den folgenden Philosophen mehr oder weniger be-
kannt. Aber es besteht eine gewisse Lücke der Kontinuität, und die Schaffung des philosophi-
schen Weltbildes beginnt im größeren Stile noch einmal aus neuen, spontanen Anfängen.
Heraklit ist der erste Philosoph der Geschichte, der leibhaftig vor unseren Augen steht. Er hat
nicht einen Begriff hingestellt, sondern er hat den Sprung vom konkreten Schauen zum Denken
(abstrakten Schauen) in ganzer Fülle getan, und er hat ein gedankliches Weltbild geschaffen, das
für alle Nachfolger Quelle wurde, sei es, daß sie ihm Gedanken bejahend entnehmen oder ihn be-
kämpfen. Dies philosophische Weltbild hat den Charakter der großen Philosophien, daß es nicht
mehr unter eine präzise logische Formel zu bringen ist. Daß überall Charakteristische bei ihm ist,
daß jeder Begriff geschaut, nicht bloß gedacht, daß jeder voll fruchtbarer psychologischer Wir-
kungskraft ist. Versuchen wir dieses philosophische Weltbild wenigstens von ferne zu sehen:
Alles ist eins (50), aber alles ist in Gegensätze, in Widerspruch, Widerstreit, Kampf zerspalten.
Mit unerbittlicher Konsequenz sieht Heraklit überall ausnahmslos die Welt als Auseinander-
streben und Wiedervereinen des Entgegengesetzten: »Alles entsteht durch den Streit« (8), »Krieg
ist aller Dinge Vater« (53).
Solche Gegensätze sind: verschiedene Töne, männliches und weibliches Geschlecht, Farben,
die gemischt werden, Bogen und Leier, Götter und Menschen, Freie und Sklaven, Tag und Nacht,
gut und schlecht, gerade und krumm, hinauf und hinab, sterblich und unsterblich, Tod und Le-
ben, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Überfluß und Hunger, jung und alt, wachen und
schlafen. Also er sieht das Gemeinsame, Gegensätzliche im logischen Widerspruch, im polaren
Verhältnis, im Widerstreit realer Kraft, in Wertgegensätzen und in bloßer Unterscheidung -
ohne daß er so verschiedene Kategorien trennt. Die Kraft dieser Gesamtanschauung ist in un-
seren Zeiten, nach so weitgehender logischer Differenzierung und Abtrennung des Nichtzuge-
hörigen, im Erfassen der Antinomien unverändert lebendig.
So gewaltig die Gegensätze gegeneinander stehen oder aufeinanderplatzen, trotz allem sind
sie ein und dasselbe, wie der Anfang und das Ende des Kreisumfangs ein und dasselbe ist (126).

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