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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0293
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200

Psychologie der Weltanschauungen

Aus dem Streit wird Harmonie, z.B. aus dem Zusammen der verschiedensten Töne die schön-
ste Harmonie. »Krankheit macht die Gesundheit angenehm, Übel das Gute, Hunger den Über-
fluß, Mühe die Ruhe« (in). »Bei Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Menschen aber
halten einiges für gerecht, anderes für ungerecht« (102). Wertgegensätze gibt es nur für den
Menschen.
So sieht Heraklit alles als eins; er sah wohl die klaffenden Gegensätze, aber er vermag sie zu-
sammenzusehen und in paradoxen Wendungen - immer gegen den rein logischen Satz des Wi-
derspruchs verstoßend - spricht er das Zusammenfallen des Entgegengesetzten aus: »Und gut
und schlecht ist eins« (58). »Der Walkerschraube Weg, gerad und krumm, ist ein und derselbe«
(59). »Unsterbliche sind sterblich, Sterbliche sind unsterblich: Sie leben gegenseitig ihren Tod
und sterben ihr Leben« (62). Tag und Nacht ist ja doch eins (57). »Gott ist Tag Nacht, Winter Som-
mer, Krieg Frieden, Überfluß und Hunger. Er wandelt sich aber wie das Feuer, das, wenn es mit
Räucherwerk vermengt wird nach dem Duft, dem ein jegliches ausströmt, benannt wird« (67).
208 | Die Gegensätze verwandeln sich fortwährend ineinander: »Das Kalte wird warm, Warmes kalt,
Nasses trocken, Dürres feucht« (126). Die Welt ist ein ungeheurer in Kampf und Harmonie zu-
sammenfallender Prozeß, ein ewiges Werden, in dem nichts auch nur einen Augenblick bestän-
dig ist. »In dieselben Fluten steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und sind es nicht« (49a).
»Wer in dieselben Fluten steigt, dem strömt stets anderes Wasser zu« (12). »Man kann nicht zwei-
mal in denselben Fluß steigen nach Heraklit und nicht zweimal eine ihrer Beschaffenheit nach
identische vergängliche Substanz berühren, sondern durch das Ungestüm und die Schnelligkeit
ihrer Umwandlung zerstreut und sammelt sie wiederum und naht und entfernt sich« (91).
Was ist nun dieser gewaltige Prozeß seinem Sinn nach? Nahe gesehen erscheint Heraklit
»die schönste Weltordnung wie ein aufs Geratewohl hin geschütteter Kehrichthaufen« (124).
Oder: »Die Zeit (otzcöv) ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt: Knabenregi-
ment« (52). Und »Kinderspiele« waren ihm von diesem Standpunkt auch »die menschlichen
Gedanken« (70).
Aber auf solche Formel - wie überhaupt auf eine Formel - kann der schauende Heraklit die
Welt nicht bringen. Es herrscht in dem Prozeß des Werdens in Gegensätzen, die sich wandeln
und zusammenfallen, noch etwas anderes. Heraklit spricht von der Dike (23, 28), die die Lü-
genschmiede und ihre Eideshelfer faßt. Dike und Eris sind dasselbe (80). Alles kommt durch
Streit und Notwendigkeit zum Leben (80). Er kennt den vo/zo? (33, 44), den Aöyog (50, 72): »Mit
dem Aöyog, mit dem sie doch am meisten beständig zu verkehren haben, dem Lenker des Alls,
entzweien sie sich« (72). »Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze aus einem Göttlichen.«
»Denn es gebietet soweit es nur will und genügt allem und siegt ob allem« (114). »Die Sonne wird
ihre Maße nicht überschreiten, ansonst [sic] werden sie die Erinyen, der Dike Schergen, ausfin-
dig machen« (94).
Dieses und das vorige Bild in einen widerspruchslosen Zusammenhang zu bringen, darum
hat sich Heraklit nicht bemüht. Er schaute beide. Was er schaute, sagte er, und der Satz des
Widerspruchs hatte die geringste Macht über ihn: sind doch die Widersprüche selbst wirklich.
Die Rolle des Menschen in dem gewaltigen Wandlungsprozeß der Welt sah Heraklit mit dersel-
ben formellosen Andacht vor dem Geschauten: »Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden,
und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Grund hat sie« (45). fdoc ävdpdmco Öaipcov (119).263
»Der schönste Affe ist häßlich, mit dem Menschengeschlecht verglichen, der weiseste Mensch
wird, gegen Gott gehalten, wie ein Affe erscheinen in Weisheit, Schönheit und allem andern« (82,
83)-
 
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