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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0294
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Psychologie der Weltanschauungen

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Nirgends hat Heraklit das Pathos des reinen Begriffs, nirgends einen Ansatz zum System. Er
ist der Schauende, dessen Stil dem Wesen nach ein aphoristischer gewesen sein muß, wenn selbst-
verständlich auch die Fragmente uns als Aphorismen erscheinen. Jeder Gedanke bekam darum
bei ihm einen anschaulichen Inhalt aus der sichtbaren räumlichen oder erlebten seelischen
Welt, er tauchte ihm als konkretes Bild, nicht als abstrakter Inhalt auf. So sah Thales das Eine
der Welt als Wasser, weil er noch nicht abstrakt dachte. Ebenso sah Heraklit den ewigen Wand-
lungsprozeß als Feuer: Seele und Welt eine ewige Flamme. Er entwarf nicht etwa eine physika-
lische Theorie, die irgendeine Einzelheit der Welt erklären sollte, | sondern er sah das Weltbild
als Ganzes: Es »ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen erglimmend und nach Ma-
ßen erlöschend« (30). Zwei Wege, die doch wieder gleich sind, geht der Prozeß des Stoffwan-
dels: vom Feuer über Wasser zur Erde und von Erde über Wasser zu Feuer. Die Seele ist Feuer: »Für
die Seelen ist es Tod, zu Wasser zu werden, für das Wasser Tod, zur Erde zu werden. Aus der Erde
wird Wasser, aus Wasser Seele« (36). In der Zeitfolge gibt es Perioden der Weltbildung und des
Weltbrands (65, 66). Das Feuer ist Welt, ist Gott. Aber es ist auch die Dike: »Denn alles wird das
Feuer, das heranrücken wird, richten und verdammen« (66). Es ist ein Weltbild, das man mit
späteren Worten als hylozoistischen Pantheismus264 bezeichnet, das aus einer tief mystischen
Einstellung fließt und mit einigen Nuancen im Wesen der erlebnismäßige Ausgangspunkt der
Mehrzahl der großen Philosophien ist.
Heraklit ist der erste und ewige Typus des schauenden, schöpferischen Philosophen im Ge-
gensatz zum ausarbeitenden, errechnenden, das philosophische Genie - das eine säkulare Er-
scheinung ist - im Gegensatz zum großen Kopf. Seinem Wesen nach ist ein solches Weltbild
von ungeheurer Fülle, aber widerspruchsvoll, ein Ganzes von nie verlorengehender Wirkungs-
kraft, aber völlig unsystematisch, nicht erdenkbar, sondern nur auf dem Wege des Denkens er-
schaubar. Die Begriffe entbehren durchweg der reinen Abstraktheit, der scharfen Scheidung,
der präzisen Bestimmung. Symbolisch und doch unmittelbar geschaut sind die Inhalte. Kriti-
sche logische Arbeit wäre hier völlig sinnlos. Die logische Arbeit hat erst auf Grund solchen ge-
schaffenen Schauens zu beginnen. Von Heraklit selbst gilt, was er vom delphischen Apollo
sagte (93): »Er sagt nichts, und verbirgt nichts, sondern er zeigt.«
Abschweifend von der Aufgabe, nur die Weltbilder als solche zu zeichnen, vergegenwärtigen
wir die Merkmale dieses Heraklitischen Typus in der Wirkung auf die Menschen und auf andere An-
schauungen des Philosophen. Die Weite und, sofern das nur Rationale entscheidet, die Unfaßbar-
keit des Weltbildes verdammt einen solchen Philosophen zur Einsamkeit: niemand versteht ihn,
und er verachtet die Masse. Viele Fragmente beziehen sich auf die Verständnislosigkeit der Men-
schen: »Sie verstehen es nicht, auch wenn sie es vernommen. Sie sind wie Taube. Das Sprichwort
bezeugt ihnen: anwesend sind sie abwesend« (34). Die Verachtung der Masse ist in den Worten:
»Einer gilt mir zehntausend, wenn er der Beste ist« (39, vgl. 97,104,121). Als Schauender ist er ge-
gen die Vielwisserei: »Vielwisserei lehrt nicht Verstand haben. Sonst hätte es den Hesiod belehrt
und Pythagoras, ferner auch Xenophanes und Hekateios« (40). Das konkrete Interesse ist
viel mehr dem Menschlichen, Seelischen, Politischen zugewandt als der Natur, dem Sternenhim-
mel. Es gibt viele ethische und psychologische Fragmente. Dagegen besteht Rückschritt und
Gleichgültigkeit in der Auffassung des Kosmos (die Sonne hält er für einen Fuß breit). Er hat keine
realen Einzelforschungen betrieben. Alles ist nur Mittel und Weg zum Schauen. Die Relativität
des Menschlichen kennzeichnet er: »Würden alle Dinge zu Rauch, würde man sie mit der Nase
unterscheiden« (7). »Esel würden Häckerling dem Golde vorziehen« (9). »Schlimme Zeugen sind
Augen und Ohren den Menschen, sofern sie Barbarenseelen haben« (107).

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