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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0295
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202

Psychologie der Weltanschauungen

Heraklit ist in seiner Fülle und Vielseitigkeit, seinem nur schauenden Denken so gewaltig, daß
210 es mit seiner Philosophie in der historischen Entwicklung nicht ohne weiteres voran ging. Wohl
hatte er das Schicksal großer Persönlichkeiten: zu Lebzeiten und nach dem Tode von einer Schar
Nachahmer umgeben zu sein, die sich seine Schüler nennen. Noch 100 Jahre nach seinem Tode
gab es in Ephesos »Herakliteer«, von denen Plato erzählt, daß sie nur dunkle Worte sprachen, die
unverständlich waren, und daß sie sich auf gar keine Diskussion einließen, weil sie unmöglich sei.265
Für die Entwicklung eines Weltbildes, das nicht nur dem Einen adäquat war, sondern sich unter
Menschen ausbreiten konnte, war eine viel größere Beschränkung anscheinend erforderlich.
So ging die weitere Gedankenentwicklung von einem Manne aus, der in der schauenden Ein-
stellung Heraklit verwandt, nur viel ärmer ist, sozusagen nur Eines sieht: Xenophanes266 (da-
für ist Heraklit für alle späteren Zeiten, bis in unsere Gegenwart der wirkungskräftigste immer
neu und ganz erscheinende Philosoph geblieben).
Xenophanes schaute das Ganze der Welt als die eine, einzige, unveränderliche Gottheit. Es ist
»ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der größte, weder an Gestalt dem Sterblichen
gleich noch an Gedanken« (23). Diese Gottheit ist »ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr« (24),
»schwingt sonder Mühe das All mit des Geistes Denkkraft«. Von diesem Schauen des einen Got-
tes her, der gar nicht wie irgendeines der uns umgebenden Wesen vorgestellt werden kann,
wandte er sich verächtlich gegen alle religiösen, sinnlichen Vorstellungen der Völker: »Alles ha-
ben Hesiod und Homer den Göttern angehängt, was nur bei Menschen Schimpf und Schande
ist: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig betrügen« (n). »Doch wähnen die Sterblichen,
die Götter würden geboren und hätten Gewand und Stimme wie sie« (14). »Doch wenn die Och-
sen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bil-
den wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Götter-
gestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst das Aussehen hätte« (15).
»Die Äthiopen behaupten, ihre Götter seien schwarz und stumpfnasig, die Thraker blauäugig
und rothaarig.« Xenophanes verneint die sinnliche Anschauung zugunsten einer geistigen In-
tuition. Den einen Gott schaut Xenophanes nicht als flammenden Prozeß, sondern als völlige
Ruhe: »Stets am selbigen Ort, verharrt er sich nirgend bewegend, und es geziemt ihm nicht, bald
hierhin, bald dorthin zu wandern« (26).
Die ganze und eine Welt (ev Kai näv') als in sich ruhende Gottheit schaute Xenophanes und ne-
benbei tradierte er Lehren der Milesier, physikalische und astronomische Meinungen. Das war ein-
facher und bestimmter als Heraklit, und hier fand sich ein Weg logischer Ausarbeitung des Ge-
schauten: Ihn beschritt Parmenides1),267 und es entstand die Schule der eleatischen Philosophie.
Wie auf Thales, der zuerst die Welt als das eine Wasser (»alles ist eins«)268 ohne alle mytholo-
gische Fabelwesen sah, Anaximander mit seinem Begriff des mrsipov folgte, so folgte auf den die
eine Gottheit schauenden Xenophanes Parmenides mit seinem Begriffe des Seins. Wie
211 Anaximander vom Wasser gar nicht mehr redete, da es nur sinnlich anschaulich oder | symbo-
lisch zu verstehen ist, so sprach Parmenides nie von der Gottheit, sondern nur von dem Sein.
Und er erlebte nicht nur das Schauen des Seins in seiner Rätselhaftigkeit, sondern er dachte be-
gründend, verwerfend die Möglichkeiten der Begriffsbildung durch und entwarf (im Gegensatz
zu Xenophanes, wie zu Heraklit) einen wohlgeordneten Gedankenzusammenhang, ein syste-
matisches Gebilde. Das reine, aber auf das Schauen basierte Denken schuf sein Weltbild. In des-
sen Zentrum steht der Gedanke des Seins. Denkt der Mensch einen Augenblick, es sei nichts, es

Ob Parmenides faktisch in historischer Abhängigkeit von Xenophanes war, ist bezweifelt.
 
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