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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0296
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Psychologie der Weltanschauungen

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sei nie die Welt gewesen und würde nie sein; wie kann denn nur die Welt sein? so kehrt aus sol-
chen Gedankenabgründen der gewisse Gedanken »das Seiende ist, und es kann unmöglich nicht
sein« (4). »Denn unaussprechbar und unausdenkbar ist es, wie es nicht vorhanden sein könnte«
(8). Indem Parmenides dieses Bewußtsein des Seins mit der ganzen Wucht eines schauenden Er-
lebnisses hatte, fühlte er sich im Gegensatz zu Heraklit, der in seinem Schauen der Welt über-
all das Werden sah und die Gegensätze. Ohne daß Heraklit Sein und Werden schroff gegen-
übergestellt hätte - denn Heraklit übersetzte nur das Geschaute in die Sprache -, schuf so
Parmenides den Gegensatz Sein-Werden in seiner begrifflichen Schärfe, und seit ihm stehen für
den rationalen Philosophen Heraklit und die Eleaten als die Lehrer des Werdens und Seins sich
gegenüber, eine Gruppierung nach den besonderen Inhalten der Lehren, die aber unter dem ge-
genwärtigen Gesichtspunkt nicht wesentlich sind. Würde etwa Parmenides das Werden gelehrt
und bewiesen, das Sein geleugnet haben, so würde er ebenfalls ein Gegner des alles schauenden
Heraklit geworden sein: Denn Heraklit lehrte das Sein im ewigen Kreislauf der Dinge, in de-
nen nichts Neues auftritt, alles wiederkehrt und jederzeit die aufsteigende und absteigende Ent-
wicklung stattfindet. Heraklit selbst würde - in den Fragmenten ist solches nicht erhalten - Sein
und Werden gelehrt haben, die Gegensätze aufgestellt und dann gesagt haben: Werden und Sein
ist dasselbe. Das Wesentliche in der philosophischen Blickrichtung des Parmenides ist die Be-
grenzung, die Beschränkung, und die Heranziehung des rational begründenden und systemati-
sierenden Verfahrens zur Intuition. An Stelle des intuitiven philosophischen Weltbildes setzt er
das auf intuitiver Basis in Begründungszusammenhängen gedachte philosophische Weltbild.
Dem Sein denkt Parmenides weiter nach: Es ist ungeboren, unvergänglich, unerschütterlich,
es ist ein Ganzes, Einheitliches, Zusammenhängendes (8). Aus Nichtseiendem kann es nicht
werden. Entstehen und Vergehen kann es gar nicht geben, denn alles Sein ist ewig und Eines.
Es ist unteilbar und ganz zusammenhängend, unbeweglich, als Selbiges im Selbigen verharrend,
es ruht in sich selbst. Alles was in der Sterblichen Sprache festgelegt ist vom Nichtseienden, als
ob es wahr sei, das kann es nicht geben und gibt es nicht: kein Werden und Vergehen, kein
Nichtsein, keine Veränderung des Orts und keinen Wechsel der leuchtenden Farbe. Und eine
Grenze muß das Sein haben, »so ist das Seiende abgeschlossen nach allen Seiten hin, vergleich-
bar der Masse einer wohlgerundeten Kugel, von der Mitte nach allen Seiten hin gleich stark«.269
Dieses philosophische Weltbild vom einen Sein, erwachsen aus dem Erlebnis des Daseins,
schlägt in seinem logischen Ausbau aller Anschauung unserer Sinne, die ja nur ein partielles,
kein philosophisches Weltbild geben, | ins Gesicht. Weiter denkend muß Parmenides zwei Vor- 212
Stellungen mit aller begrifflichen Schärfe entwickeln: 1. Die Sinne täuschen, und der Verstand
lehrt Wahrheit. »Laß dich nicht auf diesen Weg zwingen, nur deinen Blick den ziellosen, dein
Gehör das brausende, deine Zunge walten zu lassen: Nein, mit dem Verstände bringe die viel-
umstrittene Prüfung zur Entscheidung« (1). »Betrachte wie doch das Ferne deinem Verstände
zuverlässig nahe tritt« (2). - 2. Der nur dem Verstände erfaßbaren Welt der Wahrheit steht eine
Welt des Scheins gegenüber, den klaren und gewissen Gedanken die Meinungen der Sterbli-
chen. Darum muß der Philosoph nach der Entwicklung des Seinsbegriffs zweitens die Schein-
begriffe der Welt der Sterblichen entwickeln. Auch das tut Parmenides. Begriffen, die man gar
nicht benennen sollte, weil sie ein Nichtsein benennen, gewährt er Eingang: den Gegensätzen
von Licht und Finsternis, dem Werden der Welt, Geburt und Paarung usw. »Einem jeglichen
dieser (nicht seienden) Dinge haben die Menschen ihren Namensstempel aufgedrückt« (19).
Mit Verachtung wird von dieser zweiten Welt gesprochen. Sein Vertrauen zum Verstand ist
ungemein. Daß für den Verstand das Schauen Grundlage war, wird vergessen. »Denn Denken
 
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