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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0298
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Psychologie der Weltanschauungen

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ruhige Persönlichkeit erscheint, weltweit in Erfahrung und Wissen gewandert, ohne Erschütte-
rungen des Schauens und ohne die Substanzlosigkeit des Rechnens, befriedigt im Betrachten, Er-
klären und Ordnen der Dinge, ethisch rein, weil konfliktsarm und ganz nur Denker ohne per-
sönliche Interessen, ein kluger Menschenbeobachter, der Religion gegenüber indifferent. Und
charakteristisch ist sein Ideal: der glückseligste Zustand sei die Ruhe in Abkehr von aller Begierde,
sei das kontemplative denkende Erkennen, das Leben des unpersönlichen Geistes.273 Es ist das-
selbe Ideal, das Aristoteles für das Höchste hielt.274
In der Masse des nun durch die philosophische Tradition vorhandenen und lernbaren Ge-
dankenstoffs versuchte mit besonderer, jetzt noch ganz ursprünglicher und über die eigene Ent-
deckung erstaunender Frische Sophismus und Skeptizismus zu hausen. Das Weltbild des bloß lo-
gischen Typus wurde mit rücksichtsloser Konsequenz ausgebaut: Die Gedanken sind bloße
Mittel zu praktischen Zwecken. Alle Philosophen widersprechen sich und beweisen das Gegen-
teil mit gleicher Evidenz. Spitzfindige Wortunterscheidungen verfeinern die dialektische Ge-
wandtheit. In Anknüpfung an Zenon, den Eleaten, geschieht der Ausbau der Eristik und der
Fangschlüsse.275 Die formale Logik wird geschaffen. Nichts wird geschaut, es werden bloß Be-
griffe geschoben, nichts erkannt, sondern bloß Beweise errechnet.
Auf diesem Boden wiederholt sich nun noch einmal mit ganz neuem Inhalt jener Rhythmus
des Schauens, schauenden Denkens, und rezeptivem vermittelnden Ordnen: Sokrates, Plato,
Aristoteles.
| In dem zerstörenden Strom formal-logischen Treibens der Sophisten fand Sokrates einen
Halt im Wesen der Begriffe. Er bewies nicht und widerlegte nicht, wenigstens war das nicht das
ihm Spezifische, wenn er es auch manchmal in sophistischer Weise tat, sondern er leitete mit
seiner mäeutischen Kunst276 an, das Wesen, das Eigentliche, das Substantielle des einzelnen Be-
griffs zu sehen, diesen dann klar definitorisch zu bestimmen. Er tat das nicht mit dem Ziel ei-
nes Systems, sondern für das jeweilig gerade auftauchende oder brennende Problem. Indem er
alle Festigkeit in dieser Wesensschau fand, lehrte er: Tugend ist Wissen.277 - Nichts hat er geschrie-
ben. Schauen und Leben, mäeutische Arbeit und persönliche Wirkung bildeten in ihm eine un-
vergleichliche Einheit: eine der wirksamsten Persönlichkeiten der Geschichte.
Plato entwickelt dies Schauen im systematischen Denken in methodischer Schule. Bei ihm
wuchs daraus die Ideenlehre: das Wesen der Begriffe nannte er Ideen und sah sie in einer ande-
ren, übersinnlichen Welt in zeitlosem Sein. Zwei Welten sah Platon, die Welt der Ideen und
die der Sinne (analog wie die Eleaten: Schein und Sein; wie Anaximander: das Einzelne und
das Unbegrenzte), und die zwei Welten waren nicht bloß gesehene Bilder, sondern das Urbild,
das Wertvolle, die Abbilder auf tieferer Wertstufe.
Das ganze und runde System alles philosophischen und konkreten Wissens schuf, aus Plato s
Schule hervorgegangen, aber voll von dem Wissen und den Begriffen der ganzen vergangenen
griechischen Philosophie, Aristoteles. Alles verbindend, jeder Meinung ihr mögliches Recht
lassend, die Begriffe aufs feinste zergliedernd und gewissenhaft ordnend, lebt er in der Atmo-
sphäre des griechischen Denkens, es ganz sich zu eigen machend, uns es vermittelnd, ohne ei-
genen, fühlbaren Schwung, ohne ursprüngliches, schöpferisches Schauen. In der Verbindung
von Vielseitigkeit mit philosophischem Zusammensehen ist er der ewige Typus des großen Ge-
lehrten, der in gewaltiger Ordnung die Schöpfungen des Geistes sich anzueignen und in lehr-
barer Form zu vermitteln vermag. In dem Chaos der widerstreitenden Meinungen, der unüber-
sehbaren Tatsachen, findet er das verbindende und vereinheitlichende Gewebe, als Ganzes gibt
er der Menschheit, was diese sich am Quell des Genialen selbst kaum anzueignen vermöchte.

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