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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0307
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Psychologie der Weltanschauungen

Gegensatz zu den bloßen »Weltbildern« als ein Hauptelement der wirkenden philoso-
phischen Weltanschauungen ansehen muß. Diese Lebenslehren gipfeln in der Auf-
stellung eines »höchsten Gutes« (rsloq, summum bonum).
Als Beispiel seien eine Anzahl solcher Wertrangordnungen oder Lebenslehren vergleichend
nebeneinandergestellt:
Die vier Kardinal tilgenden, die seit der Antike immer wiederkehren, wurden zuerst von Plato
aufgestellt. Er dachte sich Teile der Seele: das Denken (voo?), das Mutartige (dvposiösf) und das
Begehrende {smdvprjriKÖv). Ihnen entsprechen die drei Tugenden der Weisheit (aorpia}, der Tap-
ferkeit (ävöpeia) und der Besonnenheit (ttorppomrvrj). Diese Reihenfolge ist zugleich Rangord-
nung, denn das Denken soll herrschen, es ist das rjyspoviKÖv. Außer diesen dreien gibt es für
Plato noch eine vierte Tugend: die Gerechtigkeit (ÖiKaioaovrf).283 Diese entspricht nicht einem
besonderen Seelenteil, sondern bedeutet, daß jeder Teil an seiner Stelle zu seinem Recht kom-
men soll: alles hat seinen Ort, nichts wird absolut unterdrückt und ausgeschaltet, wenn es auch
in der Hierarchie der Werte beherrscht wird. Und diese Gerechtigkeit wird ihm der Gipfel in der
Rangordnung. Wie sehr dieses formale Element des Maßes, der Ordnung in Platos Wertrang-
ordnung an der Spitze steht, zeigt die Gütertafel, die er im »Philebos« gibt (die im einzelnen mit
den vier Tugenden des »Staates« nicht übereinstimmt, wohl aber dem ganzen Sinn nach). Alles
hat an seiner Stelle sein Recht, auch die reinen Lüste, wenn sie auch in der Rangordnung zu unterst
223 sind; darüber stehen die »Erkenntnisse, Künste, richtigen Vorstellungen«, d.h. alles, was im Wissen
empirisch, was gelernt ist, die Menge des technischen Wissens; dann folgt » Vernunft und Ein-
sicht«, das philosophische Erkennen; dann das »Gleichmäßige und Schöne und Vollendete und Hin-
längliche«; und zu oberst »Das Maß und das Abgemessene«284 und das Rechtzeitige.285 Von allen
materialen Werten steht zu höchst die philosophische Einsicht, das Schauen der Ideen. Diese
philosophische Einsicht soll auch im Staat herrschen; aber die Philosophen - so heißt es in
Platos Utopie - leisten diese Herrschaft nur aus Pflicht, widerwillig, ihr eigentliches Interesse
liegt über alles Menschliche und Diesseitige hinaus in der Wahrheitserkenntnis, in der Weis-
heit. Und über allen materialen Werten steht zuletzt noch der formale der Gerechtigkeit, der
allem seinen Platz gibt, alles mäßigt, nichts zerstört, alles ordnet, nichts ausschaltet.286
Vier Kardinaltugenden kehren wieder bei Cicero, fast dieselben Worte sogar: Weisheit (sa-
pientia), Tapferkeit (fortitudo), Mäßigkeit (temperentia), Gerechtigkeit (justitia).287 Aber man
sieht, daß mit einer anderen Rangordnung auch eine ganz andere Art von Werten und eine an-
dere Art der Ableitung der möglichen Werte zusammenhängt. Ihm ist das Höchste die Tätigkeit
im Staat, die Wahrheitserkenntnis hat weniger Wert und darf nur, wenn jene andere Tätigkeit
nicht möglich ist, und in der Muße gepflegt werden. Das Maßhalten der Begierde (Platos
ttoippocmvrj) und die Gerechtigkeit, die beide bei Plato wohl auch ineinander übergehen, ha-
ben bei Cicero ihren Sinn völlig verschoben: das Maßhalten ist zum »decorum«288 geworden,
zu dem, was sich für den vornehmen Römer ziemt, und die Gerechtigkeit ist für Cicero nur
sichtbar in der Tätigkeit in menschlicher Gemeinschaft. Der universale, humane Sinn ist verlo-
ren, ein standesgemäßer, nationaler und politischer hat sich vorgedrängt.289
Die vier Kardinaltugenden werden in der christlichen We/tbeibehalten, und wieder verschiebt
sich ihr Sinn und ihre Rangordnung. Die höchste ist die Weisheit (aotpid), jedoch ist diese Weis-
heit nicht mehr das dialektische Erkennen der Ideen, sondern die schauende Erkenntnis Gottes,
welche zu den drei christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung überführt, die zu jenen
vier philosophischen Tugenden hinzukommen. Die Erkenntnis Gottes ist zugleich Liebe Gottes;
 
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