Psychologie der Weltanschauungen
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kann. Dieses Objektivieren kann entweder sich auf das Leben eines Volkes, eines Kul-
turkreises beziehen und so ausdrücken, was ein jeder mehr oder weniger lebt, so daß
sich ein jeder irgendwie darin wiederfindet; oder es kann das neue, schöpferische Set-
zen von Werten durch ein individuelles, persönliches Leben sein, in welchem ein
Mensch als prophetischer Philosoph und Wertschöpfer auftritt. Zwischen diesen
Grenzfällen stehen die Mehrzahl der historisch wirksamen philosophischen Gestal-
ten, aber dem ersten Grenzfall meist näher. Die Reflexion, die also nicht selbst Werte
einsetzen und schaffen kann, ist doch das Medium, in welchem allein die Werte sicht-
bar werden. Die Reflexion bis zum Äußersten zu verschärfen, macht erst die Empfind-
lichkeit für den Unterschied der Werte und schafft erst die gegenständlichen Welten,
angesichts derer Wertungen möglich werden. Ist auch jede Wertung und jedes Vorzie-
hen von Werten, jede Entscheidung irrational, so ist dies Irrationale doch überhaupt
erst da, wenn das Rationale möglichste Entfaltung gewonnen hat. Das Rationale gibt
die Vorbedingungen, durch die an die lebendigen Instinkte und die Wahl des Herzens -
welche an sich nichts sind - erst die Frage gestellt wird. Es ist allerdings hoffnungslos,
mit Anspruch auf allgemeine Evidenz eine Wertrangordnung als absolut gültig auf-
stellen zu wollen, zumal jede solche fixierte Rangordnung der lebendigen Erfahrung
neuer Wertverhältnisse die Möglichkeit rauben würde'). Uns, die wir in diesem Buche
nur betrachten wollen, ist gerade die Mannigfaltigkeit möglicher Wertrangordnungen
das Wesentliche. Der Betrachtende will nur sehen, nicht entscheiden. Er will nur die
Unterscheidungen möglichst verfeinern, die Möglichkeiten und die Problematik er-
fassen; die dadurch veranlaßten Wertungen und Bevorzugungen, die immer vieldeu-
tig bleiben, überläßt er dem konkreten Leben und jenen Menschen, die als Propheten
lehrend auf treten.
Als höchstes Gut ist viel gelehrt worden: das Glück, die Lust, die Seelenruhe, das
Maß, die Tugend, das Naturgemäße, das Nützliche, das Schauen Gottes, das Betrach-
ten ((pscopsiv), das Handeln und Schaffen, das System der Kulturgüter usw. Den meisten sol-
chen Lehren ist einiges gemeinsam:
11. Sie sind mehr oder weniger formal. Was im Konkreten gewollt werden soll, bleibt
neuer Entscheidung vorbehalten; was das Allgemeine, Formale sei, bleibt immer un-
klar und läßt mehrere Auslegungen für den konkreten Fall zu.
2. Sie sind, wenn sie als Lehre systematisch ausgebaut und faktisch vom lebenden
Menschen seinem Tun zugrunde gelegt werden, vom Standpunkt des Lebens aus Sack-
gassen. Denn sie wissen endgültig, worauf es ankommt, unterbinden die Erfahrung
und Verantwortung zugunsten eines Objektiven, Rechtfertigenden. Sie beziehen sich
i Wie für die Anerkennung der Geltung der logischen Wahrheiten die Voraussetzung ist, daß theo-
retische Evidenz überhaupt anerkannt sei, so genügt es für eine Lebenslehre, die immer eine
Wertrangordnung behauptet, nicht, das Dasein einer Evidenz des Vorziehens der Werte unterein-
ander überhaupt zu bejahen, sondern für jede Lebenslehre bedarf es gerade als Voraussetzung der
Anerkennung der ihr spezifischen Wertrangordnung.
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kann. Dieses Objektivieren kann entweder sich auf das Leben eines Volkes, eines Kul-
turkreises beziehen und so ausdrücken, was ein jeder mehr oder weniger lebt, so daß
sich ein jeder irgendwie darin wiederfindet; oder es kann das neue, schöpferische Set-
zen von Werten durch ein individuelles, persönliches Leben sein, in welchem ein
Mensch als prophetischer Philosoph und Wertschöpfer auftritt. Zwischen diesen
Grenzfällen stehen die Mehrzahl der historisch wirksamen philosophischen Gestal-
ten, aber dem ersten Grenzfall meist näher. Die Reflexion, die also nicht selbst Werte
einsetzen und schaffen kann, ist doch das Medium, in welchem allein die Werte sicht-
bar werden. Die Reflexion bis zum Äußersten zu verschärfen, macht erst die Empfind-
lichkeit für den Unterschied der Werte und schafft erst die gegenständlichen Welten,
angesichts derer Wertungen möglich werden. Ist auch jede Wertung und jedes Vorzie-
hen von Werten, jede Entscheidung irrational, so ist dies Irrationale doch überhaupt
erst da, wenn das Rationale möglichste Entfaltung gewonnen hat. Das Rationale gibt
die Vorbedingungen, durch die an die lebendigen Instinkte und die Wahl des Herzens -
welche an sich nichts sind - erst die Frage gestellt wird. Es ist allerdings hoffnungslos,
mit Anspruch auf allgemeine Evidenz eine Wertrangordnung als absolut gültig auf-
stellen zu wollen, zumal jede solche fixierte Rangordnung der lebendigen Erfahrung
neuer Wertverhältnisse die Möglichkeit rauben würde'). Uns, die wir in diesem Buche
nur betrachten wollen, ist gerade die Mannigfaltigkeit möglicher Wertrangordnungen
das Wesentliche. Der Betrachtende will nur sehen, nicht entscheiden. Er will nur die
Unterscheidungen möglichst verfeinern, die Möglichkeiten und die Problematik er-
fassen; die dadurch veranlaßten Wertungen und Bevorzugungen, die immer vieldeu-
tig bleiben, überläßt er dem konkreten Leben und jenen Menschen, die als Propheten
lehrend auf treten.
Als höchstes Gut ist viel gelehrt worden: das Glück, die Lust, die Seelenruhe, das
Maß, die Tugend, das Naturgemäße, das Nützliche, das Schauen Gottes, das Betrach-
ten ((pscopsiv), das Handeln und Schaffen, das System der Kulturgüter usw. Den meisten sol-
chen Lehren ist einiges gemeinsam:
11. Sie sind mehr oder weniger formal. Was im Konkreten gewollt werden soll, bleibt
neuer Entscheidung vorbehalten; was das Allgemeine, Formale sei, bleibt immer un-
klar und läßt mehrere Auslegungen für den konkreten Fall zu.
2. Sie sind, wenn sie als Lehre systematisch ausgebaut und faktisch vom lebenden
Menschen seinem Tun zugrunde gelegt werden, vom Standpunkt des Lebens aus Sack-
gassen. Denn sie wissen endgültig, worauf es ankommt, unterbinden die Erfahrung
und Verantwortung zugunsten eines Objektiven, Rechtfertigenden. Sie beziehen sich
i Wie für die Anerkennung der Geltung der logischen Wahrheiten die Voraussetzung ist, daß theo-
retische Evidenz überhaupt anerkannt sei, so genügt es für eine Lebenslehre, die immer eine
Wertrangordnung behauptet, nicht, das Dasein einer Evidenz des Vorziehens der Werte unterein-
ander überhaupt zu bejahen, sondern für jede Lebenslehre bedarf es gerade als Voraussetzung der
Anerkennung der ihr spezifischen Wertrangordnung.
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